Lifestyle
Yvonne Ehrensberger, 25, Velolobbyistin

Ich fahre lieber am Stau vorbei als im Stau zu stecken.

Aufgezeichnet von Vanessa Sadecky

Mein Rennvelo ist wohl der emotional wertvollste Gegenstand, den ich besitze. Es ist jetzt drei Jahre her, seit mein Freund mir das Velo schenkte. Nicht, dass er es einfach im Laden gekauft hätte. Das Velo besteht aus Teilen unterschiedlicher Herkunft. Er schliff und malte und schraubte alles zu einem schicken Rennrad zusammen. Das Velo hat zwar keinen Namen. Dafür ist es signiert: Schaut man genauer hin, entdeckt man auf der einen Seite „Engel“, auf der anderen „Held“. Das sind unsere Kosenamen füreinander.

Was ich tun würde, wenn mir dieses Velo gestohlen würde? Ich stell‘ es mir lieber nicht vor! Jedenfalls schliesse ich es stets mit einem grossen, schweren Schloss ab. Als das Velo ganz neu war, ging ich sogar während einer Konzertpause nachschauen, ob es noch da ist. So weit würde ich heute nicht mehr gehen. Aber ich kann Leute nicht verstehen, die ihr Velo bloss mit einem billigen Schloss abschliessen oder es nirgends festketten.

Mein Velo bleibt nicht lange an einem Ort stehen. Es ist mit mir ständig im Einsatz. Ich wohne in Opfikon und fahre fast täglich damit in die Stadt zu unserem Büro. Ich arbeite bei Pro Velo, Regionalverband Kanton Zürich. Das ist die Lobby der Velofahrerenden im Kanton Zürich. Wir kontrollieren beispielsweise, ob neue Strassenbauprojekte velofreundlich gestaltet sind oder ob genügend Abstellplätze vorhanden sind. Wir fahren die Veloinfrastruktur im Kanton ab und rapportieren Mängel. Zudem organisieren wir die Stadtzürcher Velobörsen. Unser Ziel ist es, so viele Menschen wie möglich auf das Velo zu bringen und sie in ihrem Velo-Alltag zu unterstützen. Skeptiker lassen sich ungern motivieren, das Velo auf dem Weg zur Arbeit zu nutzen. Ich wiederhole immer wieder, dass man dank dem Velofahren fit bleibt, ohne zusätzlich trainieren zu müssen. Und in der City ist man einfach schneller.

Ich pendle pro Tag etwa eine Stunde mit dem Velo. Velofahren macht mir Spass und bringt mir reichlich Flexibilität. Ich komme immer nachhause, egal zu welcher Uhrzeit. Ich brauche keinen Fahrplan und keine zwölf Quadratmeter Abstellfläche. Velofahren ist ökologisch, Punkt. Autofahren dagegen habe ich noch nie besonders gemocht. Ich besitze keinen Führerschein und als Beifahrerin wird mir immer schlecht.

Der Feierabendverkehr gehört zu meinem Velo-Alltag.

Wenn man so oft Velo fährt wie ich, fallen einem die Unterschiede im Verkehrsfluss extrem auf. Mitten in der Nacht fahre ich sehr gerne, beispielsweise nach dem Ausgang oder einer Theaterprobe. Das ist so genial, da nur wenige Autos unterwegs sind. Man ist so richtig schnell. Im Feierabendverkehr sind alle Leute gestresst. Ich meide ihn nicht, denn er gehört zu meinem Velo-Alltag. Es braucht zwar viel Geduld und trotzdem bin ich mit dem Velo schneller als mit dem Auto.

Ich gönne mir den Luxus, bei Hudelwetter mit Bus und Tram zur Arbeit zu fahren. Meine Entscheidung bereue ich jedoch, sobald das Wetter besser wird, als vorhergesagt. Es dauert dann eine gefühlte Ewigkeit, bis ich wieder zuhause bin. Wenn es nur ein wenig Regnen soll, packe ich meine Regenhose und mein Schutzblech ein.

Obwohl ich das Velofahren liebe, bin ich dem öffentlichen Verkehr nicht abgeneigt. Auf längeren Strecken innerhalb der Schweiz erscheint mir die Kombination zwischen Zug und Velo perfekt: Wenn ich beispielsweise mit dem Velo von Zürich nach Winterthur zu einem Termin reise, verstehe ich Passagiere, die sich wegen dem Platzbedarf eines Velos aufregen. Ich versuche mindestens, meine Fahrten um den Pendleransturm herum zu planen.

Viele meiner schönsten Erlebnisse sind an das Velofahren gekoppelt. Ich bin in der Agglomeration in Opfikon aufgewachsen und realisierte mit 16, dass sich die umliegenden Orte und die Kanti mit dem Velo super schnell erreichen lassen. Das war eine ganz neue Freiheit, die ich für mich entdeckt hatte. Damit war es für mich gar nicht so schlimm, als eine befreundete Familie ins zürcherische Lindau wegzog. Sie mit dem Velo zu besuchen ging ja ziemlich fix.

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