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Sjoerd van Rooijen, 51, Illustrator & Cargobike-Spezialist

Je diversifizierter die Fahrzeuge werden, desto beliebter werden sie.

Aufgezeichnet von Cornelia Schlatter

Meine Eltern stammen beide aus den Niederlanden, und beide sind schon immer Velo gefahren. In meinem Heimatdorf im Thurgau, sass ich bei meiner Mama vorne auf dem Velo in einem für damalige Zeiten, 1975, revolutionär anmutenden «Traktorensitzli». Mein Velo-Bewusstsein wurde so bereits in frühen Kinderjahren geprägt. Auf dem Weg zum Hausarzt hielt uns der Dorfpolizist Knobelspiess an und erklärte meiner Mutter, dass man Kinder in der Schweiz so nicht transportieren dürfe. Nach einem kurzen Wortwechsel und einem abnickenden «Jä so» liess uns der Landjäger wieder gewähren – ich war stolz auf meine Mutter – immerhin hatte sie das niederländische Kindersitzli vehement verteidigt gegen den unwissenden Gesetzeshüter.

Familienzeit in Holland und hilfreiche Signalethik

Das Velo war für mich allgegenwärtig. Wenn wir als Familie nach Holland in die Ferien fuhren, besuchten wir immer als Erstes den Velovermieter. Jedes Kind durfte sein Lieblingsvelo aussuchen. Damit wurde dann während der Ferien geradelt.

Was ich an Holland so schätze, ist, dass es an fast jeder Ecke Velo-Pilze gibt. Das sind so eine Art Poller mit Dach, auf denen alle Richtungen und Ortschaften mit Kilometerzahl angegeben sind. Das ist so simpel. In der Schweiz muss man die Täfelchen suchen, da sie immer viel zu weit oben angebracht, also gar nicht im Blickfeld der Velofahrerin oder des Velofahrers sind. In Deutschland zum Beispiel sind die Velowege am Boden markiert. Man verfährt sich praktisch nie. Etwas Weiteres, was ich gerne in der Schweiz einführen möchte, wären Mikbaks. Das sind Eimer, die angeschrägt am Strassenrand oder am Velowegrand angebracht sind, auf Velofahrerhöhe. So gibt es viel weniger Abfall auf den Strassen, wenn die Velofahrenden im Vorbeiweg ihren Müll entsorgen können.

Vom Illustrator zum Velohändler

Ich bin ein ausgesprochener Bewegungsmensch. Am Velofahren schätze ich die Freiheit, die frische Luft und die Bewegung in der Natur. Pro Jahr fahre ich zwischen 4000 und 6000 Kilometer. Velofahren ist so befreiend. Am Morgen hilft es mir den Tag zu strukturieren. So kann ich im Kopf meine To-do-Liste ordnen und frei denken. Auf der Heimfahrt hilft es mir abzuschalten und den Tag hinter mir zu lassen.

Das Velo war und ist für mich ein wichtiges Transportmittel. Aber so richtig Fahrt aufgenommen hat meine Tätigkeit im Velobusiness 2006 mit der Geburt von meiner Tochter. Das war eine Zäsur in meinem Leben.

Meine Tochter kam mit einem Handicap auf die Welt. Bald stand ich vor der Herausforderung, wie ich sie mit Rollstuhl in einem Veloanhänger transportieren konnte. So kam ich auf Cargovelos und gründete mein Atelier für Pedalfracht hier in Winterthur. Wir sind spezialisiert auf den Import und Vertrieb von Cargobikes. Davor war ich als Illustrator tätig. Seither verbinde ich den Handel und das Zeichnen. Meine Devise lautet: vom Comic zum Velo!

In Finnland und Holland sind «Rollstuhltransporter» essenziell. Damit können Eltern Ihre Kinder zum Beispiel zu Untersuchungen bringen oder mit ihnen Ausflüge machen.

Spezielle Velos für spezielle Bedürfnisse

Ich machte die Erfahrung, je diversifizierter die Fahrzeuge werden, auch in den Dimensionen, desto beliebter werden sie.

Um nur ein paar unserer Spezialanfertigungen zu nennen: Wir haben schon einmal ein Hotdog-Trike für Frau Hund gemacht, ein Cargovelo, dass in einen Hotdog-Stand umgebaut werden kann, ein CoffeeTrike für nach Zürich, dann ein Piadina-Bike oder das BiblioBike für St. Gallen. Das Aussergewöhnlichste war aber wohl das Bestatter-Velo von Bern. Der Bestatter hat die Mission, den Tod zu entmystifizieren, zu enttabuisieren. Der Tod soll sichtbarer, zugänglicher werden für die Gesellschaft. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema soll möglich sein und wird dadurch angeregt.

Weiter erfreut sich das Longtail ständig grösserer Beliebtheit. Die Fahrräder mit einer Art überlangem Gepäckträger für den Transport von einem bis zwei Kinder werden immer beliebter. Man kann damit die Kinder zum Beispiel in der Kita abliefern und muss dann nicht mit einem sperrigen Anhänger weiterfahren. Eine lustige Feststellung habe ich gemacht, wenn Familien ein solches Velo auswählen. Die Männer suchen meist die Farbe aus und die Frauen das Zubehör. Fun fact: Die meisten Männer wählen schwarz.

Wenn das Cargovelo nicht zu uns kommt, kommen wir eben zum Cargovelo.

Mit Velo-Recycling der Umwelt Sorge tragen

Wir im Atelier für Padalfracht setzen uns für eine kontinuierliche «Dekarbonisierung» des Verkehrs in den Städten ein. Das Atelier für Pedalfracht ist Anlaufstelle für Kundinnen und Kunden aller Einkommensschichten sowie auch für KMU, Institutionen und auch Gemeinden.

Wir haben uns auf das Recycling von Cargovelos spezialisiert. Dabei können wir pro Jahr 75 bis 100 Cargobikes aus dem Bikesharing-Projekt Carvelo.ch in Kooperation mit dem TCS beziehen. Diese Cargobikes werden nach drei Jahren Sharing-Betrieb bei uns in Winterthur rückgebaut, aufgepeppt und wieder hergerichtet. Dann werden sie auf der eigens dafür geschaffenen Plattform ReCargo.ch als Occasionsvelos verkauft.

Wir sammeln die ausrangierten Cargobikes bis Montreux ein. Weiter gehen wir nicht. Ursprünglich hätten die ausgedienten Velos an eine Firma in Deutschland verkauft werden sollen. Ich habe mich aber dafür stark gemacht, dass diese Velos im Land bleiben, also dem Schweizer Velo-Markt erhalten bleiben. Ich setze mich dafür ein, dass es stetig mehr Velos gibt.

Diese Tätigkeit würde ich gerne noch weiter ausbauen. Um noch mehr Cargovelos wieder occassionstauglich zu machen, würde ich gerne mit Stiftungen zusammenarbeiten und Integrationsarbeit leisten. Gerne würde ich Menschen, die vielleicht nicht so einen grossen Bildungsrucksack mitbringen, eine Anlehre, spezifisch für Cargovelos machen lassen. So könnten wir eine noch grössere Zahl an Cargobikes rezyklieren und dem Markt wieder zugänglich machen.  Ausserdem bieten wir jeden Montag eine Service-Tour an und bedienen unsere Kundinnen und Kunden mit dem Cargo-Bike bis Männedorf. Wenn das Cargovelo nicht zu uns kommt, kommen wir eben zum Cargovelo.

Velotaugliche Städte, friedvolle Koexistenz und mehr Raum fürs Velo

Ich möchte erreichen, dass die Städte konsequenter velotauglicher ausgebaut werden. Die allgegenwärtigen Mischzonen mit Fussgänger, Velofahrer und sonstigen Verkehrsteilnehmenden sind ärgerlich und wenig effizient. Gerne würde ich politisch vermehrt aktiv sein. Ich würde es begrüssen, wenn wir eine sinnvolle Koexistenz hinbringen würden.

Mischzonen sind problematisch. Nur Farbe auf den Boden gepinselt ist noch lange keine Infrastruktur. Man müsste das Ganze etwas aufdröseln. Wichtig wäre in meinen Augen ein klarer Bereich für Velofahrende und Fussgänger abzugrenzen.

Ich war neulich in Paris und bin vollkommen begeistert, wie schnell die Innenstadt autofrei geworden ist. Vor zehn Jahren erstickte die Stadt noch fast im Verkehr. Das war sehr erfreulich – und beruhigend ruhig zugleich. Zürich probiert vieles, schaut immer mal nach Kopenhagen oder Amsterdam. Hier in der Schweiz geht alles Faktor 5-mal länger. Es wird immer erst die Faust im Sack gemacht. Viele Menschen wollen einfach ihr Ding durchstieren. Dem Velo sollte einfach mehr Raum gegeben werden, es ist wie thromboisiert, diese Hürde sollten wir endlich nehmen. Zudem sollten Städte weniger auf teure Kommunalfahrzeuge setzen, sondern sich der E-Motor unterstützten Pedalkraft zuwenden. So vieles ist möglich und machbar.

Viel Potenzial für attraktive Velowege

Persönlich fahre ich einfach gerne Velo und mache auch oft Veloferien in Holland. Die Velos sind immer mit dabei. Aber auch in der Schweiz gibt es viele tolle Velowege. Am Walensee entlang zum Beispiel gibt einige Velotunnels, die weiss ausgestrichen sind. Diese wirken so, sehr freundlich und einladend. Meine Partnerin und ich fuhren jauchzend durch diese Tunnels, weil es einfach unerwartet, schön und speziell war! Manchmal braucht es so wenig, um Velowege attraktiv zu gestalten.

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