Lifestyle

Velos sind Gebrauchsgegenstände

Author: Christian Nill

Heute träume ich von Veloreisen. Damals dauerte es jedoch lange, bis ich überhaupt auf den Geschmack kam. Ich erinnere mich, als mir mein Vater einst sein Velo auslieh. Mir tat nach meiner Spritztour nur noch mein Hintern weh. Ich fand es «en fertige Seich». Als Jugendlicher gab es für mich sowieso nur Fussball. Aber als ich mir davon einen Bänderriss zuzog, das war 1985, lieh mir ein Kollege sein Rennvelo aus. Das sei gut für meinen Bewegungsapparat, meinte auch der Arzt. Damals realisierte ich erstmals: Velofahren ist cool! Mein Bruder und ich fuhren allerdings auch schon als junge Schüler mit dem Velo zur Schule. Verbotenerweise! Denn eigentlich wohnten wir nicht genügend weit vom Schhulhaus weg und hätten den Schulweg zu Fuss zurücklegen müssen. Denkste! … Wir stellten unsere Räder einfach etwas entfernt von der Schule ab.

Das Rennvelo muss man sich verdienen

Anfang 20, als ich berufsbegleitend die höhere Wirtschafts- und Verwaltungsschule absolvierte, war keine Zeit mehr für Fussball. Also suchte ich einen neuen Ausdauersport. Joggen fand ich Käse. Deshalb fing ich mit sportlichem Velofahren an. Zuerst begann ich mit 30 Minuten pro Einheit. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich es ohne Zwischenstopp zur Kyburg hoch schaffte. Zu meinem 30. Geburtstag leistete ich mir zum ersten Mal ein – für damalige Verhältnisse – teures Rennvelo für 1’500 Franken. Meine Frau Claudia, mit der ich seit 30 Jahren verheiratet bin, meinte spasseshalber, das müsse ich mir aber zuerst verdienen. Im Sinne: Wenn du schon ein Rennvelo kaufst, dann solltest du es auch brauchen! Also meldete sie mich beim Rominger Classic Vevey – Crans Montana an. Das war ein beliebtes Jedermann-Rennen. Aus sponsor-technischen Gründen durfte ich sogar in der ersten Gruppe starten. Ich war natürlich heillos überfordert, und als es losging, wurde ich Rennvelo für Rennvelo nach hinten durchgereicht. Aller Anfang ist schwer! Heute ist es mein Ziel, pro Jahr an mindestens einem bis drei Volksrennen teilzunehmen, wie zum Beispiel beim Alpenbrevet.

Vielseitigkeit auf zwei Rädern

Mit der Zeit lernte ich das Velo aber auch auf eine andere Art zu schätzen: Seiner Flexibilität wegen. Ich bin damit zeitlich unabhängig; wenn’s im Geschäft drunter und drüber geht, kann ich beim Velofahren den Kopf auslüften – und komme auf neue Ideen. Und dann diese Glücksgefühle, wenn man oben auf einem Pass ankommt! Alles in meinem eigenen Tempo.

Nun pendle ich seit vielen Jahren zur Arbeit mit dem e-Bike, denn mein Arbeitsweg von Neftenbach nach Winterthur wäre zu lang, um nicht ins Schwitzen zu geraten. Und ich schwitze schnell. Aber auf dem e-Bike ist das kein Thema. Da kann ich mich so anziehen, wie ich in der Bank erscheinen muss – und alles bleibt trocken.

Ich fahre heute im Alltag jede Strecke bis zehn Kilometer mit einem meiner Velos. Nebst dem erwähnten Elektrovelo habe ich noch zwei Renner, ein Gravelbike, ein MTB und ein älteres Citybike. Für jeden Zweck das passende Velo. Natürlich leihe ich meine Fahrräder auch mal aus, ich habe da keine besonders enge Beziehung. Es sind Gebrauchsgegenstände, und sie sollen gebraucht werden.

Velofreundlich geht anders

Was mir allerdings manchmal zu schaffen macht, wenn ich auf zwei Rädern unterwegs bin, sind die vielen brenzligen Situationen, die ich praktisch täglich erlebe. Meine Umgebung ist ideal, wenn man sich velofahrenderweise das Leben nehmen möchte! Man muss nur ein paar Mal auf der Hauptstrasse nach Winterthur radeln. Der Veloweg führt dort parallel, aber abgetrennt entlang der Strasse. Wenn nun ein Auto aus einer Seitenstrasse auf die Hauptstrasse einbiegen will, gucken die Fahrenden meistens nur in eine Richtung. Es kommt ihnen schlicht nicht in den Sinn, dass sich von der anderen Seite ein Velo nähern könnte. Oder dann wirst du von einem Autofahrer überholt, und nur wenige Meter später biegt er direkt vor dir rechts ab, ohne den gerade überholten Velofahrer zu denken. Unglaublich. Und lebensgefährlich! Die Strecke wurde irgendwann teilweise entschärft, heisst: Der Veloweg ist nun einfach jeweils unterbrochen. Das ist zwar gut, um Unfälle zu verhindern. Aber velofreundlich geht anders.

Natürlich trage ich immer einen Velohelm. Einmal war ich nachts mit meinem Renner auf einer mir vertrauten Strecke unterwegs. Dennoch übersah ich eine Bodenwelle – und Schwupps, hat es mich abgetischt. Ich knallte mit dem Becken und dem Kopf auf den Asphalt, und der Helm brach. Während mein Kopf unversehrt blieb, spüre ich meine Hüfte bis heute. Seither bin ich ein grosser Anhänger von Velohelmen mit dem sogenannten Mips-System. Dieses soll, laut Erfinder, die Flieh- und Rotationskräfte bei einem Sturz absorbieren. Ich kann nur allen empfehlen, nie ohne Helm auf ein Fahrrad zu steigen.

Mein Traum von Australien

Auch in meiner Freizeit und meinen Ferien bin ich mit dem Velo unterwegs. Bei uns in der Gegend gibt es viele schöne – und beliebte – Strecken rund um den Irchel. Zum Beispiel das Schloss Wart. Dorthin führt eine Nebenstrasse mit Autofahrverbot. Ein wirklich ein schöner Ort. Oder die Affenschlucht: Zwar wäre dies ein sehr hübscher Flecken. Bloss ist er mittlerweile ziemlich bekannt und dementsprechend extrem gut besucht. Da würde sich ein Ausflug nur noch bei weniger schönem Wetter lohnen.

Veloferien praktisch frei von Menschen habe ich in Australien erlebt. Ich liebe dieses Land! Ende 2022 war ich fünf Wochen dort. Allein, nur mein Bike, mein Zelt und ich. Ich wollte herausfinden, ob das noch funktioniert, so als 55-Jähriger. Ich ging davon aus, dass ich zwischendurch auch mal ins Hotel gehen würde. Aber ich übernachtete die ganze Zeit in meinem Zelt. Ich schlief sehr gut, stand mit der Sonne auf, lauschte den Vögeln – wundervoll! Und dieser Geruch, wenn man durch Eukalyptuswälder radelt. Ich war die ganzen fünf Wochen allein unterwegs. Das dachte ich auch, als ich mich auf einer völlig abgelegenen Strecke durch den Busch kämpfte. Plötzlich hörte ich eine Stimme. Ich sah mich um, aber da war niemand. Doch die Stimme war klar vernehmbar. Bis ich realisierte, dass es mein Handy war. Es hatte in meinem Tricot-Täschli von selbst die Notfallnummer meines Sohnes gewählt, und bei ihm ging der Anrufbeantworter an, denn in der Schweiz war es natürlich mitten in der Nacht.

Australien ist mein Traumland. Deswegen plane ich, ab Dezember ein viermonatiges Sabbatical dort zu verbringen. Ich möchte den Munda-Biddi-Trail fahren. Das ist der längste zusammenhängende Mountainbike-Trail der Welt. Dank Claudias Verständnis für meine Leidenschaft sind solche Abenteuer überhaupt erst möglich. Und im Gegensatz zu meinem letzten «Australien-Trip» kommt sie mich gemeinsam mit einem unserer Söhne besuchen. So können auch sie an diesen Eindrücken teilhaben.

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