Lifestyle
Wim Kolb, 51, Rahmenbauer

So ein Velo ist schon eine clevere Sache.

Aufgezeichnet von Christian Nill

Eigentlich sind Velos so simpel: zwei Räder, ein Rahmen, ein Lenker, fertig. Nicht wie Autos, die eine Tonne Material benötigen, um 70 Kilogramm Mensch zu transportieren. Gleichzeitig können Velos aber auch sehr komplex sein. Das fasziniert mich seit ich denken kann. Und fast ebenso lange schraube ich nun schon an Fahrrädern aller Art herum. Begonnen hat mein Veloabenteuer bereits vor einigen Jahrzehnten, als ich in meinem 1’000-Seelendorf, wo ich aufgewachsen bin, mein erstes eigenes Velo erhielt. Damals ging ich in die erste Klasse.

Das Velo war nigelnagelneu. Und da ich schon fahren konnte, setzte ich mich gleich auf den Sattel und fuhr los. Ich bedachte nicht, dass die Bremsen noch zu stark eingestellt waren. Ich hatte sie überhaupt nicht im Griff und raste als erstes in eine Stange. Päng! Meine Eltern erschraken sehr. Dem Velo passierte nichts. Und mir wohl auch nicht.

Wim in seiner Werkstatt in der Binz

Mein zweites Velo erhielt ich, als ich etwa zehn Jahre alt war. Ich ging mit meiner Mutter zum Velomech (Velomechaniker). Und dort stand dieser unglaublich rote Cilo-Halbrenner. Cilo war damals eine extrem angesagte Marke. Ich freute mich riesig! Meine Mutter hatte sich allerdings etwas Günstigeres vorgestellt. Sie sah mir wohl meine Enttäuschung an. Am Ende nannte ich dann doch den Cilo-Halbrenner mein Eigen.

Mit dem Velovirus hatte ich mich wohl auch deshalb schon sehr früh infiziert, weil die Tour de Suisse regelmässig durch unserem Dorf führte. Einmal richtete eine polnische Mannschaft ihr Lager mitsamt Garage im Dorfspunten ein. Wir Jungs gingen da natürlich ständig vorbei und bettelten um Ersatzteile.

Mountainbike-Boom

Ich mochte die Technik der Fahrräder von Anfang an. Schraubte immer an ihnen herum und begann, irgendwann auch die Velos meiner Kumpels zu flicken und zu optimieren. Als in den 80er-Jahren der Mountainbike-Boom war, löste das in meinem Freundeskreis eine regelrechte Euphorie aus. Bis dato gab es bloss normale Velos und Rennvelos. Die waren aber mit ihren dünnen Collies nicht für robustere Einsätze zu gebrauchen. Leider fand unser Velomech im Dorf, Mountainbikes seien Quatsch und würden sich nie durchsetzen. Diesen Velomech hat es dann nicht mehr lange gegeben.

Aber wir liessen uns davon eh nicht mehr aufhalten. Wir nahmen ausrangierte, alte Velos, montierten alles ab, was nicht zwingend zum Fahren war und gingen damit in den Wald. Dort bauten wir Schanzen und sprangen wie die Wilden mit unseren umgebauten Rädern.

Der Ausgleich

Als erwachsener Mann schraubte ich weiter, als Ausgleich zu meinem Bürojob. Ich musste einfach etwas Handfestes tun. Ich beschaffte mir immer mehr Werkzeuge und reparierte und bastelte an allem herum, was zwei Räder und keinen Motor hatte. Und wenn man sich so intensiv mit Zweirädern beschäftigt, landet man irgendwann beim Rahmen. Von einer Firma in Meilen liess ich mir mein erstes Massrahmen-Velo herstellen. Ich war sofort Feuer und Flamme! Ich absolvierte einen Kurs in Bern, und ab diesem Moment war mir klar: Ich will Velorahmen bauen!

Selbständigkeit und Velo-Glück

Während mehreren Jahren baute ich mir langsam mein eigenes Geschäft auf. Und wenn ich damals gewusst hätte, was es bedeutet, sich selbständig zu machen, dann hätte ich es wohl nie gewagt. Aber heute funktioniert es. Ich könnte mir nichts anderes mehr vorstellen. Das ist genau das, wovon ich eigentlich immer geträumt hatte. Das Witzige ist, obwohl das Dorf, aus dem ich komme so klein ist, gleich drei Velorahmen-Bauer als Söhne hat. Der Eine machte Carbonrahmen für den Velorennfahrer Jan Ulrich, der Zweite gehört heute zu den bekanntesten Rahmenbauern Europas. Und dann bin da noch ich. Quasi ein Spätberufener – aber dafür mit grosser Leidenschaft. Es gibt nur wenig Schöneres, als das strahlende Gesicht eines Kunden zu sehen, wenn er zum ersten Mal auf seinem eigenen Massrahmen-Velo fährt.

Wetter stimmt, der Puls stimmt, das Velo stimmt – es muss einfach surren.

Ich fahre tagtäglich mit dem Velo in meine Werkstatt, bei jedem Wetter. Das handhabe ich schon seit 30 Jahren so. Auch sonst bewege ich mich fast ausschliesslich mit dem Velo durch die Stadt, so dass ich noch immer keine Ahnung von den Tram- und Busverbindungen in Zürich habe. Obwohl ich den ÖV eigentlich toll finde, ist er mir einfach zu unflexibel und zu langsam. Lieber fahre ich mit dem Velo über die Quaibrücke und erlebe die Stimmung am See. Oder dann habe ich das Bedürfnis, raus aus der Stadt zu fahren, in die Natur, Wetter stimmt, der Puls stimmt, das Velo stimmt – es muss einfach surren. Das sind unbezahlbare Momente.

Steilwandkurven

Das gilt auch für damals, als ich zum ersten Mal auf einer Radrennbahn mit den steilen Kurven fahren durfte: Was für ein Erlebnis! Ein Kunde von mir hatte mich nach Aigle auf die Bahn eingeladen. Das war eine unglaublich tolle Atmosphäre. Man kann sich zu 100 Prozent auf sein Velo konzentrieren, keine Ablenkung. In den steilen Kurven bleibt man nur aufgrund der Fliehkräfte. Das war Adrenalin pur. Das würde ich gerne öfters wiederholen. Leider fehlt mir dazu die Zeit. Mit der eigenen Werkstatt und einem Sohn ist die Zeit meistens ein mangelndes Gut

Der Stahl glüht orangerot

Ich würde gerne mehr Zeit auf dem Sattel verbringen. Auch wenn es in der City schon sehr eng geworden ist. Man merkt deutlich, dass die Autos immer grösser und breiter geworden sind. Aber auch mit den zusätzlichen Verkehrsteilnehmern wie e-Trottinetts und e-Bikes sind immer mehr Menschen im Strassenverkehr unterwegs. Ich habe mir schon lange angewöhnt, sehr defensiv zu fahren, natürlich immer mit Helm. Aber es wäre trotzdem schön, wenn wir Velofahrerinnen und Velofahrer mehr Platz zur Verfügung hätten. Sowohl räumlich wie geistig. Denn so ein Velo ist schon eine sehr clevere Sache.

Wim Kolbs Fotosammlung auf Flickr

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