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Tobias Thomann, 40, Projektingenieur

Kleine Geste, grosse Wirkung!

Aufgezeichnet von Cornelia Schlatter

Das Velo ist seit meiner Kindheit mein ständiger Begleiter. Ich bin in eher bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Meine Mutter war alleinerziehend und wir hatten kein Auto. Unser Transportmittel war eben das Velo. Als kleines Kind sass ich oft hinter meiner Mutter im Velositz. Wenn meine Mutter abbog, gab sie immer die Richtung an. So habe ich spielerisch gelernt, was rechts und links ist.

Vom Alltagsgegenstand zum Lebensbegleiter

Das Velo war für mich lange Zeit einfach ein Alltagsgegenstand. So richtig Fahrt aufgenommen hat meine Velopassion mit ungefähr 23 Jahren. Da habe ich bei der Sommeraktion «bike to work» mitgemacht und stellte fest, wie gut es mir tat. Ich war tagsüber einfach viel fitter. Damals pendelte ich vom Albisriederplatz in Zürich zu meinem damaligen Arbeitgeber in Dietikon. Meine Arbeitsstellen suche ich unterdessen generell so aus, dass ich einen schönen Veloweg dorthin habe.

Ich spüre beim Velofahren besonders meine Naturverbundenheit. Es ist so etwas Schönes, wenn dir am frühen Morgen ein Reh begegnet. Ausserdem finde ich, dass alle Jahreszeiten ihren besonderen Reiz haben – speziell im Frühling, wenn alles blüht und erwacht.

Aus meiner Sicht lohnt es sich, in ein gutes Velo zu investieren. Dann macht es so richtig Spass. Ein quietschender Bahnhofs-Drahtesel hat einfach nicht dieselbe Fahrqualität.

Von Süd- nach Nordeuropa

Vor ein paar Jahren war an einem Punkt in meinem Leben angelangt, der es mir erlaubte, etwas ganz anderes zu machen, etwas zu wagen, mich auszuprobieren. Ich wollte auf dem Fernwanderweg E1 vom südlichsten zum nördlichsten Punkt Europas wandern. So startete ich in der Nähe von Gibraltar mein Vorhaben. Nach ungefähr 3’500 gewanderten Kilometern kam ich in Belgien an. Alles tat mir weh und ich wollte und konnte so nicht mehr weitergehen.

Also bat ich einen Freund, der mich besuchte, dass er mir mein Velo mitbringe. Der Rest ist Geschichte: Von Belgien aus bin ich dann nochmals 10’000 Kilometer ans Nordkap und zurück in die Schweiz geradelt. Der Vorteil war, mit dem Velo konnte ich täglich ungefähr dreimal so viel Strecke zurücklegen, wie zu Fuss. So erreichte ich das Nordkap bereits im August statt wie geplant im Oktober und konnte von dort sogar noch vor dem Wintereinbruch zurück in die Schweiz radeln. Es war unglaublich, ich erlebte fast zwei Monate lang den Herbst in all seinen Farben!

Diese Reise hat mich viel über das Leben und mich selbst gelehrt: Bei Entscheidungen gibt es eigentlich kein Richtig oder Falsch. Egal für welchen Weg man sich entscheidet, was folgt ist ein Pfad, und wenn man ihm konsequent folgt und nicht zurückblickt, wird alles gut. Auch habe ich gelernt, dass Freiheit glücklicher macht als materieller Reichtum und man mit sehr wenig auskommen kann. Ausserdem ist mir aufgefallen, dass man als Velofahrer in fremden Ländern automatisch als harmlos wahrgenommen wird. Die Menschen waren meistens sehr freundlich und hilfsbereit. Mehrmals luden mich die Leute zu sich nach Hause ein und boten mir Kost und Logis an, einfach weil sie fasziniert von meiner verrückten Reise waren. Eines weiss ich mit Bestimmtheit, der Urlaub findet unterwegs statt und beginnt nicht erst am Ziel.  

20 Stunden am Tag

Auf meiner Abenteuerreise fuhr ich im Sommer durch Norwegen. Erst hatte ich ziemliches Wetterpech. Es regnete mehr oder weniger drei Wochen lang ununterbrochen. Dann endlich kam eine Schönwetterwoche. Die wollte ich unbedingt ausnutzen. Und weil es so hoch im Norden quasi immer Tag ist, fuhr ich täglich etwa 20 Stunden Velo und schlief dazwischen nur vier Stunden. Ich kam in einen richtigen Flow, in eine Art Powermodus und habe in mir eine unglaubliche Kraft gespürt! Das erstaunte mich selbst.

Generell möchte ich nur noch mit ÖV und Velo reisen.

Auch interessant war, dass die Norweger und Norwegerinnen sehr rücksichtsvoll sind, wenn es um Velofahrende geht. Zugegeben, sie haben auch genügend Platz und können weiträumig überholen. Jedenfalls ist mir aufgefallen, dass je südlicher man kommt, desto weniger Rücksicht auf die Velofahrenden genommen wird. Das Verständnis ist einfach ein anderes.

Nun bin ich seit zwei Jahren wieder zurück in der Schweiz und habe immer noch viele Ideen, wo ich mit dem Velo hinfahren möchte. Zum Beispiel einmal nach Südafrika würde mich sehr reizen. Aber nach dieser grossen Reise brauchte mein Körper erst einmal Erholung. Mal sehen, wie es sich entwickelt. Vielleicht möchte ich auch erst beruflich nochmals neue Wege beschreiten.

Generell möchte ich aber nur noch mit ÖV und Velo reisen. – Vielleicht auch einmal mit Kind und Kegel, falls sich das noch ergibt. Ich finde, dass mehr Platz für die Mitnahme von Velos in Zügen und Cars gefördert werden sollte. Die SBB hat schon viel gemacht. Auch preislich finde ich es recht fair. Die Schweiz ist da schon vorbildlich.

Das Velo als neues Statussymbol?

Um das Velofahren noch mehr zu fördern, sehe ich verschiedene Ansätze: Das Velofahren in der Stadt muss sicherer werden. Viele Leute haben Angst, in Zürich Velo zu fahren. In den Schulen sollte man die Kinder für das Velo sensibilisieren und Elterntaxis verbieten. Ausserdem sind Autos immer noch ein Statussymbol. Dagegen werden Velos werden oft als Zeichen für Armut verstanden. Dieses Image wir hoffentlich bald kippen. 

Ausserdem sehe ich ein grosses Potenzial in Lastenvelos. Die Leute finden Lastenvelos cool und spannend. Die Möglichkeiten, Dinge mit dem Velo zu transportieren, werden sich noch massiv verbessern. Zudem wird sich wohl auch im Bereich der E-Bikes noch einiges tun. Die Leute möchten nicht schwitzen und auch mit schönen Kleidern auf dem Velo zur Arbeit fahren können. Damit mehr Menschen umsteigen muss Velofahren noch bequemer und komfortabler werden. Autofreie Tage hätten auch einen grossen Einfluss auf die Nutzung von Velos. Nur schon, wenn ein paar Strassen in der Stadt komplett autofrei würden, wäre das ein grosser Gewinn.

Ich wünsche mir ein Velofahrnetz, was die Velofahrenden im Fahrfluss weniger behindert, als das heute der Fall ist. Absteigen vom Fahrrad bedeutet viel mehr Aufwand, als für die Autofahrenden auf ein Pedal zu drücken.

Übrigens machte ich eine lustige Feststellung, dass wenn man bei Wind Velo fährt, man automatisch die Augen etwas zusammenkneift und die Mundwinkel nach oben zieht, um die Augen vor dem Wind zu schützen. Das sieht dann so aus, als würde man lächeln. Mir war das erst gar nicht bewusst. Aber auf einmal stellte ich fest, dass mich die Menschen immer so freundlich anlächelten, bis ich merkte, dass es wohl deswegen war. – Kleine Geste, grosse Wirkung!

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