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Thomas Ernst, 39, Veloladenbesitzer und Weltrekordhalter

An die Faltvelo-WM in London fuhr ich mit dem Cargobike

Aufgezeichnet von Christian Nill

Vor jeder grossen Velotour bringt mich meine Vorfreude so richtig in Stimmung. Ich unternehme kurze Testfahrten auf dem Velo, mit dem ich die Tour machen möchte. Das Wetter beginne ich intensiver zu beobachten und plane die Route. Meistens entscheide ich mich erst sehr kurzfristig, wann ich losfahre. Das hängt auch davon ab, ob ich mein Geschäft für den geplanten Zeitraum auch wirklich verlassen kann. Zum Glück habe ich ja noch Angestellte, auf die ich mich verlassen kann. Jedenfalls arbeite jeweils bis kurz vor Abfahrt. Das ist ein Grund, weshalb ich meine Velotouren oft alleine unternehme: Es erlaubt mir, flexibel zu bleiben.

Thomas Ernst

Erfahrungsgemäss starte ich dann statt wie geplant morgens um sechs Uhr erst ein, zwei Stunden später. Das macht es schwieriger, mein Tagesziel von 200 Kilometer bis Sonnenuntergang zu erreichen. Der Moment, in dem ich dann endlich auf dem Bike sitze, fährt mir richtig ein. Mein Körper schüttet Adrenalin aus. Ich bin voller Energie und Tatendrang und muss mich jeweils selber bremsen, damit ich mich nicht schon in den ersten zwei Stunden überanstrenge.

Meine Leidenschaft fürs Velofahren begann als Teenager

Meine Leidenschaft fürs Velofahren begann, als ich mit meinem Zwillingsbruder zum ersten Mal ohne Eltern in die Ferien fuhr. Das war einfach nur geil. Wir waren 13 Jahre alt. Mit uns kamen zwei ältere Kollegen. Wir fuhren mit dem Velo nach Murg am Walensee. Mein Bruder und ich hatten natürlich die kleineren Velos, sprich: die kleineren Räder. Dadurch kamen wir den beiden Kollegen auf ihren Rennern fast nicht nach. In Murg verbrachten wir einige Tage auf einem Campingplatz, lernten Mädchen kennen, lachten, blödelten und plauderten immer bis spät in die Nacht. Dieses Erlebnis hat mich infiziert. Es zeigte mir, wie spannend und günstig es ist, mit dem Velo zu verreisen. Zudem waren wir damals zum ersten Mal so richtig unabhängig. Das hat mich tief beeindruckt.

Als Jugendlicher ging ich dann regelmässig an Vorträge von Menschen, die grosse Touren mit dem Velo unternommen hatten. Eines meiner damaligen Vorbilder war 16 Jahre auf dem Velo unterwegs. An einem seiner Vorträge berichtete er, wie er von Genf um die ganze Welt radelte. Da wurde mir klar, dass das genau mein Ding ist. Ich bin eher der sportliche Fahrer. Wenn ich auf dem Bike unterwegs bin, ist das für mich auch immer ein Training. Und ich will mich selber herausfordern! Ich will mich an meine Grenzen bringen. Und ich will zeigen, was mit einem so simplen Verkehrsmittel wie dem Velo alles möglich ist. Zum Beispiel vom Kanton Zürich nach Rotterdam zu fahren – auf einem 80-jährigen Eingänger-Militärvelo aus dem Jahr 1929.

Zwei alte Mühlen als Wegbereiter

Seit ich ein Teenager war, hat mich meine Veloleidenschaft nie mehr losgelassen. Deshalb war es für mich völlig klar, dass ich die Radfahrer-Rekrutenschule absolviere. Bei der Aushebung machte ich zwar am meisten Punkte. Dennoch war die RS eine harte Zeit. Es war die zweitletzte Radfahrer-RS überhaupt. Ich hatte also Glück. Nach meinem letzten WK wurde ich gefragt, ob ich Interesse an zwei alten Militärvelos habe, für je 75 Franken. Ich kaufte sie, möbelte sie ein bisschen auf und setzte ein Verkaufsinserat ins Netz. Ich staunte nicht schlecht über die grosse Nachfrage: Was für ein riesiges Interesse an diesen zwei alten Mühlen!

Das bewirkte zwei Dinge bei mir: Zum einen war mir da klar, dass ich mit Militärvelos handeln will. Zum anderen entwickelte ich eine Passion für Spezialfahrräder: Militärvelos, Postvelos, Tandems, Liegevelos, Transportvelos – und Faltvelos. Als ich mein Velogeschäft eröffnete, hatte ich zuerst nur an zwei Tagen die Woche offen. Deshalb war es mir auch nicht möglich, eine bestimmte Faltvelo-Marke vom Händler in England zu beziehen. Ich war ihm nicht seriös genug. Nun war mein Ehrgeiz vollends angestachelt. Ich erweiterte die Öffnungszeiten sukzessive, bis ich fünf Tage pro Woche offen hatte. Endlich konnte ich auch fabrikneue Faltvelos von Brompton beziehen.

Velos sind das effizienteste Verkehrsmittel

Thomas Ernst

Damit wurde ich in der Folge sogar ganz unbeabsichtigt zum grössten Faltvelo-Händler der Schweiz. Und ich entwickelte ein besonderes Geschick im Zusammenfalten dieser Faltvelos. So kam es, dass ich an einem Falt-Contest in Solothurn teilnahm, den ich gewann. Der Preis: Teilnahme an den Schweizer Faltvelo-Meisterschaften. Ich trat natürlich ebenfalls an – und hatte kurz vor dem Ziel so viel Vorsprung aufs Feld, dass ich abstieg, mein Velo zusammen faltete und mit ihm ins Ziel marschierte. Diesmal lautete der Preis für meinen Sieg: ein Flug nach London und Gratisteilnahme an den Faltvelo-Weltmeisterschaften. Das war crazy!

Wenn ich mit einem e-Bike unterwegs bin, notiere ich mir immer das Benzin-Äquivalent. Also die Menge Strom, die ich dafür benötige und welcher Menge Benzin das entspricht. Die Gleichung lautet: Ein Liter Benzin entspricht neun Kilowattstunden mit einem Wert von rund 20 Rappen. Für die Tour nach London und zurück verbrauchte ich 28 Kilowattstunden, was gerade einmal 3 Liter Benzin entsprach. Und mein e-Cargobike war voll beladen! Ich bin überzeugt, dass e-Bikes nicht so umweltschädlich sind, wie sie zurzeit gemacht werden.

Die grosse Reise nach London

Den Flug wollte ich allerdings nicht, da mein ökologisches Bewusstsein stark ausgeprägt ist. Das ist ein weiterer Grund, warum ich Velo fahre. Ich halte Fahrräder für das effizienteste Verkehrsmittel überhaupt. Mein Plan, um an der WM in London teilzunehmen: Ich fahre mit dem Velo hin! Also nahm ich ein e-Cargobike der ersten Generation, packte meine sieben Sachen, stellte mein Faltvelo auf die Ladefläche und radelte los nach London.

Thomas zeigt das mit seinem Faltrad beladene Lastenvelo

Der Rest ist schnell erzählt: Nach fünf Tagen und 1’200 Kilometern auf dem Sattel erreichte ich London. Nach einem Besuch der Faltvelo-Manufaktur, die die Weltmeisterschaft ausrichtete, galt es endlich ernst. Die «Brompton World Championship» fand in West Ashling in Südengland statt. Ich wurde Siebzehnter von 521 Fahrerinnen und Fahrern, darunter auch ehemalige Profi-Radfahrer. Mit dieser Leistung war ich mehr als zufrieden. Was mich aber besonders glücklich machte: Ich erhielt den Spezialpreis für das schnellste Zusammenlegen des Faltvelos.

Und weil ich es liebe, meine Grenzen auszuloten, stellte ich mich ein Jahr später der Herausforderung, und versuchte mich am Weltrekord im Faltvelo-Zusammenfalten. Mit einer Zeit von 5.19 Sekunden habe ich den Weltrekord gebrochen! Darüber freue ich mich noch heute.

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