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Regula Scheidegger, 43, Bank-Mitarbeiterin

Das Velo war für mich stets ein Türöffner.

Aufgezeichnet von Christian Nill

Das, was ich auf meinen Touren erlebte, ist für mich nur mit dem Velo möglich. Es war immer ein Türöffner, wenn ich unterwegs war. Und das Velo half mir dabei, andere Seiten an mir kennenzulernen. Aber diese Bedeutung hatte es natürlich nicht immer. Als kleines Mädchen wünschte ich mir vor allem aus einem Grund Velo fahren zu lernen: ich wollte endlich zu den grossen Kindern dazugehören. Mit sechs Jahren klappte es: Auf einem Spielplatz in Schlieren konnte ich mein Velo erstmals selbständig kontrollieren! Das war ein Gefühl des Triumpfs. Endlich gehörte ich auch dazu.

Im Deux-Pièce aufs Velo

Einige Jahre später diente das Velo als Rössli-Ersatz. Mit meinen Freundinnen spielten wir jeweils vor der Schule Reitstunden auf unseren Stahlrössern, da echte Pferden nicht drin lagen. Später war das Velo vor allem ein zweckmässiges Mittel, um von A nach B zu gelangen. Zum Beispiel zur Arbeit.

Mit Anfang 20 arbeitete und wohnte ich in Zürich. Ich radelte damals mit einem alten Rennvelo ins Büro. Im Deux-Pièce und mit High-Heels. Das war nicht immer ganz so praktisch wie man sich vorstellen kann. Das alte Rennvelo für den Arbeitsweg habe ich inzwischen gegen ein Tourenvelo eingetauscht – das Deux-Pièce und die High-Heels sind geblieben.

Mein Motto als Velofahrerin: Sei eine berechenbare Verkehrsteilnehmerin!

Noch heute fahre ich jeden Tag, bei Wind und Wetter, bei Regen und Schnee, mit dem Velo zur Arbeit. Immer! Zugegeben ist die Strecke nicht besonders lang. Aber trotzdem. Weitere Strecken unternehme ich in den warmen Monaten an den Wochenenden. In dieser Zeit verbringe ich pro Woche gut und gerne 200 Kilometer auf dem Sattel. Und obwohl ich so oft auf dem Velo bin – gefährliche Situation habe ich bis heute noch nie erlebt. Mein Motto als Velofahrerin: Sei eine berechenbare Verkehrsteilnehmerin! Genügend lang das Handzeichen für Richtungsänderungen geben, keine Schwenker machen und so fort. Und natürlich den Verkehr lesen, vorausschauen und antizipieren. Ich fahre auch nicht bei Rot über eine Kreuzung.

Mobilität ist nicht für alle selbstverständlich

Einmal monatlich bin ich mit dem Auto unterwegs. Deshalb weiss ich, wie gefährlich Velofahrer sein können, die sich nicht an die Verkehrsregeln halten. Ich arbeite nebenamtlich für den gemeinnützigen Fahrdienst Tixi. Das mache ich seit 2007. Tixi ermöglicht es seinen mobilitätseingeschränkten Fahrgästen auszugehen, Freunde und Familie zu besuchen oder an kulturellen Anlässen teilzunehmen. Damit gebe ich diesen Menschen einen Teil ihrer verloren gegangenen Mobilität zurück. Ich habe viele spannende und bleibende Begegnungen erlebt und das Bewusstsein gewonnen, dass Mobilität nicht selbstverständlich ist.

Das Velo: mein Gefährt – und mein Gefährte

Plötzlich nicht mehr mobil zu sein, ist für mich schwer vorstellbar. Denn das ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb ich das Velofahren so liebe: Es gibt mir Freiheit. Das Velo ist so flexibel! Das ist für mich das Wertvollste überhaupt. Ich muss nie an Tram- oder Zugverbindungen denken und bin meistens eh schneller als mit dem ÖV. Wenn mir danach ist, kann ich meine Siebensachen packen, mich auf mein Tourenvelo schwingen – und ab die Post. Mein Velo ist nicht nur mein Gefährt, es ist mein Gefährte.

Was heisst schon krass?

Das erlebte ich vor allem auf meinen ausgedehnten Touren. Insbesondere, als ich Amerika alleine auf zwei Rädern durchquerte. Sobald ich jemandem davon erzähle, finden die Leute das krass. Aber als ich unterwegs war, fühlte es sich überhaupt nicht krass an. Man nimmt es einfach, wie es kommt. Tag für Tag. 5’000 Kilometer lang.
Ich startete in New York, auf der Brooklyn Bridge und fuhr während drei Monaten einmal quer durch die USA bis zur Golden Gate Bridge. Was für ein Abenteuer! Diese endlosen Weiten, diese Landschaften. Und dann die Begegnungen mit den Menschen – so etwas ist nur auf dem Velo möglich.

Ausser man tut es

Bis zu dem Zeitpunkt war ich eigentlich gar nicht so die Abenteurerin. 2013 las ich den Blog eines Schweizers, der genau diese Reise unternommen hatte. Da war für mich klar: Das möchte ich irgendwann auch machen. Der konkrete Entschluss, Amerika auf dem Fahrrad zu durchqueren, entstand dann aus einer Unzufriedenheit heraus. Ich war unzufrieden mit meinem Job. 2014 war die Zeit reif, mir diesen Wunsch zu erfüllen. Ich wollte mich auf ein Abenteuer einlassen und endlich einmal die ganzen «Wenn und Aber» ignorieren. Eigentlich bin ich ein Kopfmensch. So eine verrückte Reise entsprach mir damals gar nicht. Es dann einfach trotzdem gewagt zu haben, das war super.

Ich stecke mir meine Grenzen selbst

Als ich in San Francisco die Golden Gate Bridge überquerte, hatte ich etwas Wesentliches über mich gelernt. Noch beim Start in New York wusste ich nicht, was mir diese Velotour bringen würde. Über 5‘000 Velokilometer später wusste ich es: Selbstvertrauen! Ich glaube, das ist für viele Frauen ein Thema. Mich haben meine Touren gestärkt. Ob Amerika oder ganz alleine mit Velo und Zelt durch Patagonien – ich weiss jetzt, wozu ich in der Lage bin. Und dass ich mir meine Grenzen selbst stecke. Auf meinem ganz persönlichen Weg half mir das Velo dabei zu beweisen: Du kannst es.

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