Lifestyle
Hugo Portmann, 63, Müllmann und leidenschaftlicher Militärvelofahrer

Velofahren ist wie Atmen für mich

Aufgezeichnet von Cornelia Schlatter

So richtig entdeckt habe ich das Velofahren erst seit meiner Entlassung 2018. Seither bin ich ziemlich angefressen davon. Es ist das Passepartout für meine persönliche mobile Freiheit. Velofahren ist gut für so Vieles. Es ist geistiger und seelischer Ausgleich und es ist jetzt mein Hobby. Velofahren gehört zu meinem Leben, wie der Sauerstoff zum Atmen.

Ich suchte für mich ein günstiges Verkehrsmittel und entdeckte so das Velo für mich. Es ermöglicht mir meine persönliche Allround-Freiheit. Ich kann es als Transportmittel brauchen, um zur Arbeit zu fahren, kann damit einkaufen gehen und Lasten transportieren und ich kann es auch noch als Sportgerät nutzen.

Velofahren und allgemein regelmässiger Sport hilft, die Zivilisationskrankheiten zu «bodigen». Velofahren ist eine simple Form von Gesundheitsprävention. Wenn man Velo fährt, entlastet man den ÖV und steckt sich erst noch weniger mit Grippe an. In der Stadt kommt man viel schneller voran.

Als Müllmann bei der ERZ (Entsorgung und Recycling Zürich) bin ich es gewohnt, viel draussen zu sein. Man härtet ab. Ich fahre fast bei jedem Wetter, nur nicht bei Eis und Schnee. Überhaupt ist mir Disziplin sehr wichtig. Ich stehe jeden Morgen um 3.00 Uhr auf, radle um 3.20 Uhr ins Fitnesscenter, trainiere dort 90 Minuten und gehe dann im Anschluss gegen 6.00 Uhr zur Arbeit. Arbeitsbeginn ist um 6.30 Uhr.

Die Zukunft gehört den Lasten-Velos

Vor Kurzem habe ich mir einen langgehegten Wunsch erfüllt und mir ein E-Lastenvelo gekauft. Die Last wird bei diesem Modell hinten transportiert. Das finde ich viel sicherer, als wenn man diese vorne transportiert. Einzig ein Blinker fehlt meinem E-Transportvelo noch, das wäre sehr nützlich.

Ich bin überzeugt, dass die Zukunft den Lasten-Velos gehört. Ich fände es auch sinnvoll, wenn man in der Stadt Fahrgemeinschaften für Lasten-Velos bilden würde. Das wäre effizient und man könnte sich die Kosten teilen. Ausserdem könnten Firmen ihren Mitarbeitenden vermehrt E-Velos zur Verfügung stellen. So hätte der Arbeitgeber gesündere Mitarbeitende. Ein Solidaritätsbeitrag von CHF 20.– pro Jahr, von den Velofahrenden an die Infrastruktur fände ich zudem angemessen.

Das Velo ist das Passepartout für meine persönliche Freiheit!

Wir haben nur eine Erde und sollten zu dieser Sorge tragen. Das ist mitunter auch ein Grund, weshalb ich ein E-Lastenvelo gekauft habe. Ich möchte meinen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten.

Ich staune auch immer wieder, was für einwandfreie, funktionstüchtige Velos die Menschen entsorgen. Die werden aber seit einiger Zeit bei uns gesammelt und einer gemeinnützigen Organisation weitergegeben, welche die Velos bedürftigen Menschen überreichen. Ab und zu kommt es vor, dass wir ganze E-Velos aus den Containern ziehen. Da müssen wir immer aufpassen, dass es keine Akkus mehr dabeihat. Die könnten sich nämlich beim Pressen in der Recycling-Anlage entzünden.

Mit „La Grande Liberté“ um den Zürisee

Ich fahre jede Woche einmal um den Zürichsee mit «La Grande Liberté» in 4 Stunden und 30 Minuten und mit zwei Pausen. Inklusive einer Zusatzschlaufe bis zu mir nach Hause sind das ungefähr 83 Kilometer. Mit dem Arbeitsweg und sonstigen Einkaufstouren komme ich pro Woche ungefähr auf 100 Kilometer.

«La Grande Liberté» ist mein 1-Gang-Militärvelo, Jahrgang 1985. Ich mag solche Raritäten. Sie sind robust und man kann sie gut selber reparieren. Weiter besitze ich noch einen Bahrenwagen, ein seltenes Stück Schweizer Militärgeschichte. Dieser wurde früher als Anhänger bei der Radfahrertruppe eingesetzt, um Verletzte zu transportieren. Dabei ist mir wichtig, dass diese Fahrzeuge genutzt wurden, um die Freiheit zu schützen und nicht in kriegerische Handlungen verwickelt waren.

Zu sperrig für die Bahn

Den Bahrenwagen, Jahrgang 1948, habe ich jemandem in St. Margrethen abgekauft. Ich fuhr damals mit dem Zug und meinem Militärvelo hin und habe den Bahrenwagen angehängt. So bin ich in 8 Stunden, inklusive Pausen, bis nach Zürich geradelt. Das waren an die 130 Kilometer – und das alles mit dem Eingänger. Der Bahrenanhänger wäre einfach viel zu sperrig gewesen, um ihn in den Zug zu packen.

Ich finde es schön, wenn man solch historischen Raritäten ein neues Leben einhauchen kann. Manchmal leihe ich diese Stücke an Künstler aus, die zum Beispiel eine spezielle Szene damit filmen oder fotografieren möchten. Ich bin immer wieder fasziniert von der technischen Entwicklung. Man wird hier von den Anfängen des Velos in die Neuzeit katapultiert. Nicht alles Neue ist schlecht, aber die alten Sachen sind einfach viel beständiger.

Sich Zeit nehmen

Ich bin ein offener Mensch und gehe mit offenen Augen durch die Welt. Was mir gefällt, nehme ich auf, was mir nicht gefällt, ignoriere ich einfach. Auch wenn ich immer wieder dieselben Strecken fahre, entdecke ich stets etwas Neues. Es kommt immer mal vor, dass die Leute ihren Daumen hochhalten, wenn sie mich mit dem Militärvelo um den See radeln sehen.

Hugo's "La grande liberté"

Leider haben die Menschen heute einfach keine Zeit mehr. Das finde ich bedenklich. Klar muss man sich beim Velofahren etwas mehr Zeit nehmen, aber damit könnten so viele Wohlstandskrankheiten minimiert werden. Die Schweiz ist so ein schönes Land und es gibt so viel zu entdecken. Ich nehme es, wie es kommt, nach Lust und Laune und lasse mich vom Leben überraschen.

Sicheres Velofahren

Ich mache mir oft Gedanken, was man auf den Strassen noch verbessern könnte. In der Schweiz gibt es viele stillgelegte und ungenutzte Bahnlinien und Tunnels. Diese könnte man sinnvoll umnutzen, wiederbeleben und daraus sichere Velowege machen. Das denke ich immer wieder, wenn ich solche brachliegenden Bahnstrecken sehe.

Velofahrende und Autofahrende soll man nicht gegeneinander ausspielen, sondern nach Lösungen suchen, die Sicherheit zu erhöhen. Dies gelingt am besten, wenn man die beiden Verkehrsmittel trennt. Auf einem abgetrennten Radweg fühle ich mich selbst viel sicherer. Ich fahre ohnehin eher defensiv und geniesse die Freiheit.

Zur Velo-Geschichte von Hugo Portmann

Hugo Portmann ist ein Schweizer Bankräuber. Er erlangte Bekanntheit durch seine mehrfachen Fluchten mit erneuten Straftaten und verbüsste eine lange Haftzeit von 35 Jahren. 2018 wurde er aus dem Strafvollzug entlassen und arbeitet unterdessen bei der Entsorgung der Stadt Zürich.

Fotos: Mischa Scherrer
Video: Nathan Klingspoor

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