Ich war Einzelkind. Und mein erstes Velo war ein kleines Klapprad, das ich mit acht Jahren in einer Ecke unserer chaotischen Garage in Hamburg entdeckte. Meine Mutter war leider eine Messie und zudem gewalttätig. Aufgrund seiner Tätigkeit als Arzt war mein Vater fast nie zu Hause. Die zwei Rädli eröffneten mir damals eine Parallelwelt, in der meine Mutter mir nichts anhaben konnte. Wenn sie schlief, zog ich damit los. Das Velo verschaffte Abstand zu allem, was weh tat. Es bedeutete persönliche Freiheit, mehr Raum, Natur und Sorglosigkeit.
Wir wohnten damals auf einem Hügel. Bergauffahren war für mich ohne Gangschaltung kaum möglich. Also schob ich regelmässig – und es war mir egal. Mit 13 Jahren schickte man mich zu einer Grosstante ins Tessin, ins abgelegene und bergige Valle di Muggio. An Velofahren war nicht mehr zu denken. Stattdessen fuhr ich dort bald mit einem frisierten Töffli herum.
Zweiter Anlauf
Erst mit ca. 25 Jahren habe ich mich wieder mit dem Radfahren beschäftigt. Ich absolvierte ein Anwaltspraktikum in Kreuzlingen am Bodensee. Dort kaufte ich mir mein erstes eigenes Velo, einen billigen Ladenhüter mit rosa Sattel und rosa Details. Mit diesem optischen Unding erlebte ich wieder die Freiheit auf zwei Rädern. Am Bodensee kann man wunderschöne Touren machen, immer in Seenähe und oft auf verkehrsfreien Wegen. Mit meinem Hund war ich jeden Tag unterwegs. Für weitere Strecken habe ich ihn in einem Korb auf den Gepäckträger gesetzt. Das war eine Wiedergeburt des Velofahrens. Seither kann ich mir ein Leben ohne Bike nicht mehr vorstellen.
Grosseinkauf per Velo
Heute mache ich fast alles auf zwei Rädli. Ins Gym fahren, mit dem Hund Gassi gehen – und unsere Einkäufe. In Männedorf wohnen wir oben am Berg, daher hat mein Alltagsbike unterdessen eine Motorunterstützung. Ich nenne es meinen «Traktor», weil es mir ermöglicht, auch Grosseinkäufe für unseren sechs-Personen-Haushalt bergauf zu transportieren.
Manchmal brauche ich zu Hause Hilfe, bevor ich absteigen kann. Denn das E-Bike würde umfallen, sässe ich nicht mehr darauf, um das Gewicht der Waren auszugleichen. Mein Mann muss mir dann manchmal helfen. Ich weiss genau, was sein Schmunzeln in diesem Moment bedeutet «ach Frau, warum hast du nicht gleich das Auto genommen?» Ich komme ihm jeweils zuvor, indem ich ihn anstrahle, was so viel heisst wie «vergiss die Frage!». Schliesslich ging es doch mit dem Bike! Ausserdem ist der Hund jetzt glücklich. Er konnte bergab rennen und er hatte seinen Auslauf. – Und ich muss nicht mehr mit ihm Gassi gehen.
Mit dem Velo die Welt entdecken
Wir leben am Berg und mein Mann könnte wegen seiner Knieproblemen keine langen Veloausflüge mehr machen. Darum haben wir neben «Bio-Bikes» auch E-Bikes. Von Veloausflügen machen wir nach wie vor einige! Meistens entwerfe ich eine Tour zunächst mit meiner Lieblings-App. Mit dem Finger zeichne ich die Route, möglichst off-road. Die App berechnet mir daraufhin die Distanz sowie die zu überwindenden Höhenmeter.
Die schönsten Momente sind dann jedoch die, die man nicht geplant hat: Ein Mittelaltermarkt in einem Dorf, ein Stand mit reifen Früchten aus einem Privatgarten, eine zur Beiz umfunktionierte Scheune. Mit einem Velo kann man überall und jederzeit anhalten, ganz ohne Parkplatzprobleme. Das Schönste daran: Man taucht mit allen Sinnen in die Umgebung ein. Man hört die Vögel, riecht die Blumen und ist langsam genug unterwegs, um spannende Details zu entdecken. Für mich ist das Erleben einer Gegend vom Velosattel aus die schönste Art des Unterwegsseins.
Das gilt auch für weltweite Touren, ob als Individualreisende oder als Leiterin für Bike-Abenteuerreisen. Einst fuhren wir mit einer Gruppe in Sri Lanka in eine religiöse Prozession anlässlich einer Hochzeit. Und schwupp, waren wir Teil des Hochzeitsfests! Auf dem Velo ist alles persönlicher und offenherziger. Da ist keine Fensterscheibe zwischen dir und der Umwelt.
Oft blickt man in freudige und neugierige Gesichter. In Indien beispielsweise können sich die Menschen vor Lachen kaum halten, wenn sie uns weisse Touristen auf Bikes radeln sehen: In ihrer Verkehrshierarchie sind Velofahrende ganz weit unten, knapp über den Fussgängern. Und das sind meistens Mittellosen. Und dennoch haben wir offenbar viel Geld, um überhaupt in ihr Land zu fliegen. Das passt nicht zusammen, und sie finden es urkomisch.
Meistens möchten sie die Gangschaltung genauer ansehen, da sie so etwas von ihren eigenen Velos nicht kennen. Man findet sich also mitten auf der Strasse wieder, das Bike auf dem Kopf, während man mit der Hand die Pedale dreht, schaltet und ihnen zeigt, was passiert.
Natürlich ist das auch widersprüchlich. Wir stehen da mit unseren Hightech-24-Gang-Velos, und sie sind barfuss und haben allenfalls einen rostigen Eingänger mit abgenutzten Reifen. Trotzdem ist der Kontakt unmittelbarer, als wenn wir ihr Land mit einem Mietwagen bereisen würden. Als Bikereisende habe ich nirgendwo negative Erfahrungen gemacht, aber viele herzliche und unbefangene Begegnungen mit der einheimischen Bevölkerung.
Abenteuer im Busch
Schon in den 80er Jahren habe ich Fernreisen mit dem Fahrrad unternommen, lange bevor es kommerziell wurde. 1996 war ich als junge Frau in der Karibik unterwegs, unter anderem in Granada: ich, mein Fahrrad, zwei Satteltaschen und darin eine sauschwere Fotoausrüstung. Damals gab es noch keine genauen Karten der Inseln. Ich wollte zu einem See, der sehr schön sein sollte, und verirrte mich hoffnungslos. Im Dickicht stand mir plötzlich ein Einheimischer mit einer riesigen Machete gegenüber und schaute mich mit grossen Augen an. Ich fragte ihn nach dem Weg. Er kenne den See, sagte er, und er könne mich begleiten. Als er mich daraufhin noch tiefer in diesen dichten Wald führte, mit der Machete in der Hand, wurde mir ziemlich mulmig. Ich war froh, als er mir anbot, das Velo zu schieben, denn so musste ich die Machete tragen.
Er führte mich tatsächlich zum See und bot an, mich von dort aus bis zu seinem Dorf zu begleiten, von wo ich mich gut orientieren könne. Ich wollte ihm zum Dank etwas schenken, aber er wünschte sich nur ein Foto von ihm mit mir, per Selbstauslöser. Ich musste ihm versprechen, später einen Abzug per Post an seine Adresse zu senden. So kam es vor dem Abschied zu einer Art «Selfie». Einmal mehr war ich sehr dankbar, auf meinen Entdeckungstouren als alleinreisende Frau stets nur netten und vertrauenswürdigen Menschen begegnet zu sein.
Mit dem Bike in die Zukunft
Es muss nicht immer die Ferne sein. Auch das Züri-Oberland ist wunderschön. Wenn wir Besuch haben, schiebe ich unseren Gästen fürs Sightseeing vor der Haustür eines unserer Velos «unters Füdli».
In der Schweiz vermisse ich an manchen Orten einfach gute Velowege, insbesondere in Zürich. Wenn ich da an Stockholm denke, oder Zaragoza – in diesen velofreundlichen Städten fühlt man sich nie unsicher. Denn das Velowegnetz ist so gut ausgebaut wie bei uns der ÖV.
Wenig hilfreich fürs gute Image des Velos sind bei uns leider eher aggressive und Verkehrsregeln missachtende Biker oder Raser auf Wanderwegen. Das ist einfach nur schade. Denn ich wünschte mir, wie beispielsweise in Holland, dass noch viel mehr Menschen den Weg auf diese zwei Räder finden.