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Manfred Mammut, 29, Pflanzenfresser

Das Geheimnis vom Mammut und dem Fahrrad

Geschichte von Hannes Munzinger

Diese Geschichte erzählt von Manfred, der vor einundzwanzigtausend Jahren in den Grassavannen Nordeuropas lebte. Manfred liebte Gras, viel Gras, Gräser in allen Geschmacksrichtungen, denn er war ein ausgewachsenes Mammut. Genauer gesagt war er ein zottiges Wollhaarmammut mit zwei wuchtigen, gebogenen Stosszähnen. Natürlich hiess Manfred nicht wirklich Manfred. Damals waren Worte und Buchstaben noch nicht erfunden. Doch sein wirklicher Name ist für uns Menschen eh unaussprechlich.

Manfred Mammut war in froher Erwartung und dennoch nicht trächtig. Schon damals kriegten die Männchen keine Babys. Heute Nacht wollte er ins Menschenlager schleichen und dort das einzige Velo dieser Epoche stibitzen. Ja, Freds grösster Traum war, für einmal durch die nordländische Savanne zu radeln. Doch die Menschen kamen den Mammuts etwas suspekt vor. Sie gingen aufrecht auf zwei Beinen und fuhren mit dem Velo zum Shopping nach Stonehenge. Zudem verbrannten sie das spärlich vorhandene Holz, das von einer handvoll Bäumen in der Savanne fiel. Seltsame Wesen.

Die Nacht war sternenklar. Der erdnahe Vollmond erleuchtete Manfreds Weg besonders hell. Die anderen Mammuts hatten ihm von seinem Vorhaben abgeraten. Sie warnten stets, du wirst dir beim Velo fahren einen Zahn ausschlagen. Doch Manfred beobachtete, wie glücklich der Mensch auf dem Velo dahin schwebte. Diesen Velotraum wollte er sich diese Nacht erfüllen.

Für Mammuts waren die Menschen nicht besonders klug. Wenn das Mammut in der Not auf einem Bein regungslos verharrte, konnten die Menschen es von echten Bäumen nicht unterscheiden. Bloss wenn ein Menschenkind so einen Baum hinauf klettern wollte, um beispielsweise Brennholz zu sammeln, konnte das Mammut sich nicht mehr halten. Mammuts waren im höchsten Masse kitzlige Tiere.

Bald erspähte Manfred die leisen Funken eines Lagerfeuers, die in den Nachthimmel stiegen. Sein grosses Herz pochte laut unter seinem dichten Fell. Auf Riesensohlen schlich er vorsichtig näher ans Menschenlager heran. Zwischendurch verharrte Fred im Mammutbaummodus. Aber im Menschenlager blieb es still. Nahezu elegant wie eine Ballerina wirkte das schwerfällige Mammut beim Anschleichen, Baummodus, Anschleichen, Baummodus und bald war das Velo in Rüsselreichweite.

Irgendwie hatte Manfred schon ein schlechtes Gewissen. Doch sein Herzenswunsch war stärker. Die Menschen schliefen tief und fest um das Lagerfeuer, welches sie von Wildtieren schützen sollte. Fred war so ein Wildtier, welches ebenfalls Angst vor dem Feuer hatte. Doch er fasste allen Mut zusammen und streckte sich vorsichtig. Doch sein Rüssel war eine Grasährenlänge zu kurz. Voll ausgestreckt tippelte das Mammut weiter vor und war fast da. Mit einem lauten Knacken löste sich ein verspannter Wirbel des ausgestreckten Mammuts. Herrlich, hatte das gut getan. Doch ein bärtiges Männchen erwachte von dem Geräusch. Erschrocken erblickte es das Mammut, welches das Fahrrad entwenden wollte, sprang auf und fuchtelte wild mit einem piekenden Speer.

Manfred war entlarvt als Velodieb! Erwischt, beschämt und mit traurigem Blick blieb er stehen und liess die Beschimpfungen über sich ergehen. Er verstand nicht wirklich, was dieses Menschenmännchen da schimpfte. Wie bereits erwähnt, die Buchstaben waren noch nicht erfunden. Aber, dass Manfred wirklich etwas Dummes vor hatte, wurde ihm erst jetzt richtig bewusst.

Das Mammut senkte ergeben seinen Kopf und schloss die Augen, was nicht bloss in Mammutsprache Entschuldigung hiess. Traurig blickte er nochmals zum Velo, dann zu den Menschen, die ihn stumm anstarrten. Darauf drehte er sich mit einem Seufzer, welcher für Menschenohren wie ein tiefes Grollen klang, vom Lager ab. Für einen Moment war es still. Nur die langsamen, dumpfen Schritte des Mammuts und leises Zirpen der Grillen war noch zu hören. Doch plötzlich rief jemand dem Mammut zu und schob das bärtige Männchen, welches eben noch wild gefuchtelt hatte, zur Seite.

Manfred drehte sich um. Ein Menschenweibchen mit langen, weissen Locken, die im Mondlicht wie eine kleine Regenwolke glänzten, stellte sich vor das riesige Tier. Mit ihrer zittrigen, kleinen Hand zeigte sie auf das Velo und dann auf Freds Wollmütze. – Wollmütze?! Ja, Wollhaarmammuts trugen ganz prachtvolle Wollmützen. Und die Frau war entweder sehr alt, hatte schreckliche Angst oder hatte einfach kalt, so wie sie am ganzen Leibe zitterte.

Stumm schob die Frau das Velo heran, hob es hoch und hängte es mit dem Rahmen um Manfreds Stosszahn. Still zeigte sie nochmals auf seine flauschige Wollmütze. Manfred kullerte eine Träne über die Wangen. Waren diese Menschen vielleicht doch nicht so seltsam? Mit dem Rüssel hob er seine riesige, warme Wollmütze hoch vom Kopf und reichte sie der Frau. Ein Kind begann zu kichern. Ja, so ein Mammut sieht mit Glatze richtig lustig aus. Aber keine Angst, Wollmützen von Mammuts wachsen wieder nach. Manfred lächelte verlegen und aus tiefstem Herzen strahlte er vor Glück.

Manfred Mammut fährt Velo, Illustration von Hannes Munzinger

Epilog

In Shropshire England wurden 1986 die fossilen Skelette von mindestens fünf Mammuts ausgegraben. Die Knochen gehörten zu einem fast vollständig erhaltenen, erwachsenen Tier mit vier Jungen. Bei dem ausgewachsenen Bullen fehlte lediglich einer der Stosszähne. Im Sediment des Fundorts wurden zudem versteinerte Fahrradspuren gefunden. Wer das Fahrrad fuhr, blieb für die Forscher ein unergründliches Rätsel.

Die Mammuts waren ausgestorben, wegen Klimaveränderungen, heisst es. Zudem konnten Mammuts vermutlich nicht Velofahren, denn ihnen fehlte der Daumen für die Klingel. Vielleicht erinnert Sie die nächste Velofahrt an Manfred Mammut. Denn eines ist gewiss:

“Das Glück dieser Erde liegt im Sattel der Pferde Velos.” – Reimt sich nicht, ist aber so.

Für Velo-Geschichten
Hannes Munzinger, Mai 2020

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