Eine Weihnachtsgeschichte zum Vorlesen …
sehr frei nach Christian Andersens „Das hässliche Entlein ”
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Draussen auf dem Land war es herrlich. Es war ein goldener Herbsttag. Die kleine Anna machte sich wie jeden Morgen auf den Weg zur Schule. Es war schon wesentlich kühler, als noch im Sommer. Doch sie mochte den Geruch des Herbstes sehr, den Geruch der Ernte, von Stroh und gemähten Kornfeldern, von frisch gepflügter Erde. Mit Schwung setzte sich Anna auf ihr Fahrrad und fuhr los. Der rote Lack mit weissen Verzierungen an ihrem Rad war stumpf und blass und die Chromteile an einigen Stellen überaus rostig. Jede Umdrehung der Pedale klang wie das Scharnier einer alten Holztruhe.
„Schaut, Anna und ihre Rostlaube!“ tönte es fast jeden Morgen, wenn sie am Ende der Wohnstrasse angelangt war. Ein paar Jungs aus der Nachbarschaft verspotteten sie und ihr altes Gefährt. Annas Vater hatte es zwar von einem Schrottplatz mit nach Hause gebracht. Aber ihr war das egal. Traurig und wütend zugleich kniff sie ihre Lippen zusammen und trat so fest in die Pedalen, wie sie nur konnte. Dabei knarzte das Rad erst recht laut im Takt, was die Jungs mit abschätzigen Gelächter quittierten. Diese blöden Jungs, dachte sich Anna.
Es dauerte nicht lange und die Wolken in ihrem Kopf hatten sich verzogen. Sie erfreute sich am leisen Plätschern des Baches, welches sie ein gutes Stück weit begleitete. Der Weg führte sie durch den Wald, dem fröhlichen Zwitschern aus den Ästen entlang, um sie danach den sonnigen Hügel hinauf, an der Kirche vorbei, ins Nachbardorf zu bringen. Mit dem Wind in den Haaren war es für sie fast wie fliegen, ein paar Minuten der Unbeschwertheit. Und es verging kaum ein Tag, ohne dass sie irgendetwas Neues auf ihrem Schulweg entdeckte.
Annas Eltern waren überglücklich, als sie ihr damals dieses alte Velo schenken konnten. Sie richteten es gemeinsam für sie her, so gut es ging. Sie wussten, wie beschwerlich der lange Schulweg für die kleine Anna gewesen sein musste. Doch von den Hänseleien erfuhren sie nichts. Schliesslich hätte Anna nie etwas davon erzählt.
Schon mehrere Monate lag Annas Mutter in der Höhenklinik weit oben am Berg. Anna fuhr an ihren schulfreien Nachmittagen zu diesem Sanatorium hoch, auch wenn es sich zu Anfangs sehr steil und beschwerlich anfühlte. So konnte sie wenigstens ein paar Stunden die Woche bei ihrer kranken Mutter verbringen. Anna kannte die Melodie im Herzen ihrer Mutter. Und Anna war für sie da, ihr diese vorzuspielen, wenn sie sie selbst vergessen hatte. Diese Besuche hatten Anna viel abverlangt. Allerdings war das schnell vergessen, wenn sie das Velo sausen lassen konnte und den ganzen Berg wieder hinunter fuhr. – Doch an diesem schulfreien Nachmittag sollte alles anders kommen.
Die Schulglocke läutete und die Kinder packten mit lautem Schwatzen und wildem Stühlerücken ihre Bücher, Hefte und Schreibsachen zusammen und rangelten sich auf den Heimweg. Auch Anna machte sich auf den Weg. Sie bemühte sich stets, nicht aufzufallen und hatte keine Lust, sich vorzudrängen. Deshalb stand sie oft als Letzte vor dem Veloständer. Und es war einfach nicht ihr Tag. Ihr Fahrrad war weg, entführt, gestohlen, wie auch immer. Es war nicht mehr da! Eilig suchte sie im leeren Schulhof, ob ihr jemand vielleicht einen Streich spielen wollte. Vergebens. In ihrer Verzweiflung war da wieder dieses Gefühl, welches sie heute schon einmal hatte. Wütend und traurig zugleich biss sie sich auf die Lippen und machte sich zu fuss auf den Heimweg, an der Kirche vorbei, den Hügel hinab, durch den Wald und den Bach entlang.
Am Dorfrand angelangt, entdeckte Anna ein kleines Haus, welches sie vorher noch nie beachtet hatte. Es war leicht versteckt hinter einer Baumgruppe. War da ein kleiner Laden? Es war ein rotes, dreistöckiges Backsteinhaus mit runden Bögen an den Fenstern. Neben einer schweren Eingangstür war ein Schaufenster, welches mit bunten Lichtern geschmückt war. Darüber stand in grossen Lettern:
Velos, Bücher & Co.
Eine eigenartige Mischung, dachte sich Anna. Neben allerlei Krimskrams, Spielsachen und Büchern waren ein paar Fahrräder und ein Lastenrad ausgestellt. Alles war etwas angestaubt, aber gleichwohl ordentlich und mit viel Liebe drapiert.
„Die Nase platt drücken kostet einen Taler die Minute”, lachte eine sonore Stimme neben ihr. „Entschuldigung”, erschrak Anna und erblickte das breite, bärtige Grinsen eines alten Mannes. „Du musst dich nicht entschuldigen, dafür sind Schaufenster nun mal da. – Ach, wie unhöflich: Guten Tag junge Dame, was kann ich für dich tun?” – „Für mich? Ich, ich weiss nicht”, entgegnete Anna. „Mein, mein Fahrrad, es ist weg. Irgendjemand hat es gestohlen, gleich bei der Schule. Und dann habe ich ihren Laden entdeckt, obwohl ich hier sicher schon hundert Mal vorbei geradelt bin. Ich wollte nur” – „Gestohlen?!” unterbrach sie der alte Mann. „Gleich bei der Schule sagst du? So so.” Er kratze sich im Bart. „Ich denke, du solltest dir deswegen keine Sorgen machen! Ich könnte deine Hilfe gebrauchen, liebe Anna. Und wenn du fleissig bist, wird sich da sicher etwas einrichten lassen.”
Mit grossen Augen musterte Anna den alten Mann und wich einen Schritt zurück. „Woher kennen sie meinen Namen? Wer sind sie?” Der Alte zog seine dicken Augenbrauen hoch und räusperte verlegen. „Du siehst doch genau so aus, wie eine Anna. Das war einfach gut geraten. Und du kannst mir wirklich helfen, da drin, vornehmlich mit dem Staub. Wenn du magst, meine Freunde nennen mich einfach Nick.” Anna wusste nicht weshalb, aber irgendetwas in ihr sagte, dass sie diesem alten Herrn vertrauen konnte. „Freut mich, Nick”, entgegnete ihm die Kleine und folgte ihm in den Laden. Eine silbrige Glocke bimmelte, als Nick die Türe öffnete. Drinnen war es viel schöner und grösser, als es von aussen wirkte. Unglaublich, wie viel es hier drinnen zu entdecken gab!
„Wenn Du möchtest, kannst du gerne in meinen Bücher stöbern. Das wäre wunderbar, wenn deren Seiten wieder einmal durchlüftet würden. Aber zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen.” Er brachte ihr einen weissen Staubwedel mit einem kunstvoll geschnitzten Schaft: „Ich bin gleich nebenan in meiner Werkstatt. Ruf einfach, wenn du etwas brauchst – und vielen Dank für deine Hilfe. Fast vergessen: den Staubwedel ausschütteln kannst du aus dem kleinen Fenster hinter dem Schreibtisch. Und jetzt verziehe ich mich lieber, sonst beginnt meine Nase zu kitzeln und zu niesen. Und pass bitte gut bei den Schneekugeln auf. Und auch bei der Schreibtischlampe!”
Das Abstauben ging Anna leicht von der Hand. Sie kam fast nicht mehr aus dem Staunen heraus. Die Bücher erzählten Geschichten von Abenteuern aus aller Welt. Sie berichteten vom Mond und den Sternen, von dem, wie unsere Erde in Milliarden Jahren entstanden ist. Die Schneekugeln zeigten Orte, von denen sie bis anhin noch nie gehört hatte. Hinter dem Schreibtisch war eine Holzwand mit unzähligen Schubladen, fein säuberlich nach dem Alphabet beschriftet. Die Fahrräder waren allesamt reich verziert und schön anzusehen. Leicht mit dem Staubwedel berührt, leuchteten die Fahrradlampen hell auf, als wollten sie ihr hallo sagen. Bloss die grosse Standuhr schien schadhaft zu sein. Das schwere, goldene Pendel stand still und schief, als wäre es in der Luft festgeklebt. Am besten gefielen Anna jedoch die Holzspielsachen. Ein Doppeldecker-Flugzeug, ein Zeppelin, ein Stall mit geschnitzten Tieren, eine Holzeisenbahn, ein buntes Karussell, Schachfiguren und ein hübsches Schaukelpferd waren da ausgestellt. Und die Zeit verging.
Das Hämmern und Klappern in der Werkstatt verstummte, als Anna „ich bin fertig!” gerufen hatte. Der Alte war begeistert. „Das hast du wirklich meisterhaft gemacht! Lieben Dank, Anna. Und glaube mir: Man bekommt stets mehr zurück, als man gegeben hat.”
Anna war wieder zuhause angelangt. Und obwohl sie sicher mehrere Stunden in diesem Laden verbracht hatte, schien kaum Zeit vergangen zu sein. In aller Ruhe konnte sie ihre Hausaufgaben erledigen und das Abendbrot bereitstellen, bis ihr Vater von der Arbeit nach Hause kam. Ganz aufgeregt erzählte ihm Anna von all ihren Erlebnissen und dem gestohlenen Fahrrad. Er war sehr besorgt, als er hörte, dass sie bei einem Fremden gewesen war und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Meine liebe Anna, das Glück lässt uns doch schon länger im Stich,” meinte er besorgt. „Ich weiss leider bald nicht mehr, wie ich die Behandlung deiner Mutter bezahlen soll. Und bis dein Fahrrad gefunden wird, musst du leider wieder zu fuss zur Schule. Aber bitte nur noch auf direktem Wege, keine Ausflüge zu eigenartigen Fremden mehr!”
Es vergingen bloss ein paar Tage, als Anna beschlossen hatte, das kleine Haus am Stadtrand wieder aufzusuchen. Sie war sich sicher, dass ihr Vater sich umsonst Sorgen machte. Man sollte einfach mehr Vertrauen in das Gute im Menschen haben, dachte sich Anna und stiess die Ladentür auf. Das Glöcklein an der Türe bimmelte hell und Nick, der an seinem Schreibtisch in Papieren vertieft war, blickte auf, nahm seine kleine Lesebrille von der Knubbelnase und lächelte. „Anna, liebe Anna! Willkommen in meinem Haus. Das freut mich sehr, dass du mich besuchen kommst. Was kann ich heute für dich tun?” – „Guten Tag Nick. Eigentlich hat mich mein Vater gebeten, sie nicht mehr aufzusuchen, aber ich dachte, ich wollte, ich…” – „Du wolltest mir wieder helfen, damit ich dir helfen kann, oder?” Anna nickte verlegen. „Na dann komm herein meine Kleine. Ich mache mir gerade eine Tasse heisse Schokolade. Magst Du auch welche?” Anna nickte erneut und erwiderte. „Ja gerne, aber ich kann nicht lange bleiben.”
Nick nahm zwei Tassen Schokolade und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. „Komm, setz dich zu mir. Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?” Anna nickte wild, denn sie mochte Geheimnisse. Und sie hatte noch nie etwas so verlockendes probiert, wie diese heisse Schokolade. Sie schmeckte nach Mandeln, nach Plätzchen und Zimt zugleich. „Ein altes Familienrezept!” bemerkte Nick stolz. Dann beugte er sich vor und sprach ganz leise. „Hast du den Staub bemerkt?” Tatsächlich hatte sich da wieder eine gehörige Staubschicht angesammelt. „Dieser Laden ist alt, sehr alt, viel älter als ich. Hier drin vergeht die Zeit nur sehr langsam. Die Standuhr da drüben funktioniert tadellos, halt einfach in der Zeit dieses Raumes. Für uns und leider auch für den Staub hier drin vergeht die Zeit wie im Fluge. Wir können hier drin ganze Romane lesen und es vergeht draussen kaum eine Sekunde. Wir und der Staub haben viel Zeit hier drin.” Tatsächlich. Das Pendel der Uhr stand auf der anderen Seite still in der Luft. „Deshalb muss man hier drin viel mehr Staub wischen?” fragte Anna. „Kluges Mädchen!” lachte der Alte. „Aber denk daran. Es bleibt nur solange ein Geheimnis, wie du es für dich behältst.”
In den nächsten Tagen besuchte Anna den Laden regelmässig und wischte fleissig Staub, lernte aus den Büchern und erzählte dem alten Nick ihre Erlebnisse, von ihrem Vater und ihrer kranken Mutter. Sie hatte in ihm einen Freund gefunden, dem sie Freud und Leid anvertrauen konnte. Niemand bemerkte, dass sie weg war. Nicht einmal, als die Jungs aus der Nachbarschaft sie bis zum Laden verfolgt hatten. Sie drückten ihre Nase am Schaufenster platt. Doch sie konnten Anna nicht sehen, da sie für Aussenstehende bloss ein Bruchteil einer Sekunde im Laden war. Von drinnen sah es zum Schreien aus, wie die Jungs für Minuten an der Scheibe klebten. Erst als der alte Nick die Tür öffnete und die Rasselbande begrüsste, liefen alle weg, so, wie Angsthasen es tun.
Als die ersten Schneeflocken vom Himmel fielen, geschah etwas Wunderbares. Es war der erste Advent. Genau an diesem Tag erholte sich Annas Mutter von ihrer Krankheit. Die Ärzte sprachen von einem Wunder. Anna konnte ihre Tränen nicht mehr zurück halten, als ihre Mama endlich wieder zuhause war. Gleich am Tag darauf machte sich Anna auf den Weg zu ihrem alten Freund, um ihm von ihrem Glück zu erzählen. Doch das rote Haus war weg, entführt, gestohlen, wie auch immer. Es war nicht mehr da und ihr Freund Nick mit ihm. Dennoch erlebte Anna die schönste Weihnachtszeit ihres Lebens. Nie mehr spürte sie so viel Nähe und Liebe wie in diesen freudvollen Tagen ihrer Kindheit. Doch ein weiteres Wunder sollte erst noch geschehen.
Als Anna am Weihnachtsmorgen die warme Stube betrat, guckte hinter dem Weihnachtsbaum ein rotes Fahrrad hervor. Es war ein Rad, das wie Annas aussah, nur halt wie neu. Und es war Annas Fahrrad. Aus dem hässlichen Entlein war ein wunderschöner Schwan geworden. Auch die Verzierungen auf dem Rahmen kamen ihr äusserst bekannt vor. Auch das Licht begrüsste Anna fröhlich. Im Korb am Lenker entdeckte sie einen Brief, auf dem „Für Anna” geschrieben war:
Liebe Anna
ich fand dein Fahrrad im Bach unter einer Brücke und habe es für dich zurecht gemacht. Es ist etwas ganz Besonderes geworden, so wie du. Darum weiss ich, dass es dir gefallen wird.
Entschuldige, dass ich ohne jeden Abschied weiter gezogen bin. Aber es gibt noch viele Kinder auf dieser Welt, die mir dringend helfen möchten. Du weisst schon, mit Staub wischen und heisser Schokolade trinken.
Lebe deinen Traum. Ernähre dich gesund und trink viel Wasser. Sammle Momente, keine Dinge. Glück kommt übrigens selten allein. Aber erwarte nicht, dass dich andere Glücklich machen.
Ich wünsche dir ein schönes Leben.
Nicklaus
PS: falls jemand versucht, dir dein Rad zu stehlen, wird ihm das nicht gelingen! Mindestens solange du deinen Glauben an den Weihnachtsmann nicht verloren hast!
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Wir wünschen allen frohe Festtage und ein glückliches, neues Jahr.