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Für Catherine Elliot ist das Velo ein Zeichen der Hoffnung

Die Projektkoordinatorin der ETH für «E-Bike-City» lernte als Kind das Velofahren in Hanover, Pennsylvania. Das war für sie ein Stück persönliche Freiheit. In der Schweiz entdeckte die Wissenschaftlerin das Velo als ein Zeichen der Hoffnung.

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«Am 22. April kam ich in Pennsylvania auf die Welt, ausgerechnet am «Earth Day», dem internationalen Tag der Erde. Dieser erinnert uns seit 1970 daran, uns um die Umwelt zu kümmern und nachhaltiger zu leben. Das ist für mich mehr als nur ein schöner Zufall. Denn das Thema Nachhaltigkeit begleitet mich seit meiner Kindheit. 

Ich wuchs als fünftes von sieben Kindern in einer katholischen Familie auf. Wir hatten wenig Geld, dafür umso mehr Fantasie. Und da wir nur ein Auto für neun Personen hatten, bedeutete das Velo für uns Kinder vor allem eines: Freiheit!

Velos meiner Kindheit

Mein erstes Velo fuhr ich mit fünf Jahren. Mit zehn Jahren bekam ich ein lila Ein-Gang-Velo mit Bananensattel und hohen Lenkstangen. Es war ein Occasionsvelo aus einem Secondhandshop, aber ich liebte es! Im Sommer gründeten wir voller Freude eine richtige Velo-Gang. Die ruhigen Strassen von Hanover, Pennsylvania, gehörten uns! 

Am liebsten fuhr ich die zweieinhalb Kilometer zum Basketballplatz. Basketball ist mein absoluter Lieblingssport, schon seit dem Kindergarten. Ich war richtig stolz, freihändig fahren und dabei den Basketball auf einem Finger rotieren zu können.

An einem Sommerabend endete mein lila Kindervelo unter dem Reifen eines riesigen Pick-Ups. Wegen der hohen Frontpartie hatte der Nachbar das abgestellte Velo vor seiner Garage einfach übersehen. Mein schönes Velo war irreparabel! Aber zu Weihnachten bekam ich ein neues. Es war ein richtiges Mountainbike, ein tiefviolettes Nishiki Manitoba mit 27 Gängen. Es hätte nicht besser sein können! Ab da begann mein eigentliches Abenteuer, die Natur mit dem Velo zu entdecken.

Velofahren als Überlebensstrategie

Zur High School fuhren wir gemeinsam mit einem Auto, weil der Weg zu weit war. Aber für alles andere nutzte ich das Velo. Auch an der Uni entschied ich mich bewusst gegen ein Auto – aus Kostengründen und weil es unpraktisch war. Stattdessen fuhr ich mit dem Velo an die Vorlesungen und mit einem alten Motorrad nach Hause. Mein Studium kostete 15’000 Dollar pro Jahr, für US-Verhältnisse ein Schnäppchen. Aber ich musste jeden Cent selber verdienen, mit Nebenjobs und als Mitglied des Uni-Basketballteams.

Mit 22 Jahren zog ich nach Colorado. Inmitten der Rocky Mountains lernte ich das Mountainbiken erst richtig kennen. Ich arbeitete in einem Outdoor-Shop und kaufte mir dank Mitarbeiterrabatt ein gutes Hardtail. Ich erledige fast alles mit dem Velo. Sogar im Winter während meines Masterstudiums in Alamosa bei minus 25º Grad! Das war hart, aber es machte mich widerstandsfähiger und auch dankbarer für gutes Wetter.

Mein Doktorat machte ich in Fort Collins, Colorado, wo ich von Freiwilligen lernte, wie man aus alten Rahmen ein eigenes Bike zusammenbaut. So wurde ich Teil der lokalen Veloszene, half mit bei «Bike to Work»-Aktionen und Open-Air-Kino vom Sattel und beteiligte mich an der legendären «Tour de Fat» – einer bunten Parade für Nachhaltigkeit, Kreativität und Bier. Obwohl – den Geschmack von Hopfen lernte ich nie wirklich schätzen. Der Erlös ging jeweils an die lokale Velo-Initiative.

Zwei Dinge lernte ich in dieser Zeit: Wirklich frei ist, wer sein Velo selber reparieren kann. Und: Im Herzen sind wir alle Velofahrerinnen und Velofahrer – manche haben es einfach vergessen. Durch spielerische Aktionen kommt die Erinnerung wieder zurück.

Kulturschock – Von Colorado nach Basel

Mit 30 kam ich für ein Postdoc in Sport- und Bewegungswissenschaften nach Basel. Mein Deutsch war schlecht, aber man wollte mein Fachwissen – und mein Englisch. Und beides habe ich. Natürlich kam mein Tourenvelo mit, quasi mein «Schweizer Taschenmesser mit zwei Rädern». Und was soll ich sagen, ich war im Paradies! Velowege, Respekt und eigener Platz auf der Strasse. Für mich als US-Amerikanerin war das ein echter Kulturschock!

Ich wohnte in einem alten Kloster nahe der Grenze. Innert weniger Minuten war ich in Deutschland einkaufen oder in Frankreich schnell etwas Käse und ein Baguette besorgen. Das Dreiländereck war mein Spielplatz und das Velo das perfekte Fortbewegungsmittel! Hier erkannte ich als Sportwissenschaftlerin zum ersten Mal, dass Bewegung nicht im Fitnessstudio stattfinden muss. Auch der Arbeitsweg kann die tägliche Bewegung und die mentale Gesundheit fördern. Das war ein Wendepunkt.

Ich verlagerte meinen Forschungsschwerpunkt weg vom klassischen Sport, hin zur Alltagsbewegung und psychischer Gesundheit. Ich wollte herausfinden, wie man Menschen dazu bewegen kann, das Velo im Alltag zu nutzen und wie Infrastruktur gestaltet sein soll, damit Bewegung quasi nebenbei passiert. Für mich ist das Velo dafür ein Schlüsselelement: ein kleines Werkzeug mit grossem Potential für Mobilität, Gesundheit – und natürlich auch fürs Klima.

Neuseeland – Rückenwind dank e-Bike

Mein Weg führte mich nach Christchurch in Neuseeland. Dort übernahm ich eine Dozentenstelle im Bereich Sportmanagement. Ich engagierte mich in verschiedenen Velo-Projekten und erlebte, wie diese Stadt nach einem Erdbeben neu gedacht wurde, auch mit Unterstützung von Experten der niederländischen «Dutch Cycling Embassy». Leider war Christchurch aus Sicht einer Velofahrerin eher wie die USA: es gab viel motorisierter Verkehr, zersiedelte Landschaften, kaum Infrastruktur fürs Velo und sehr viel Gegenwind – im wörtlichen Sinne!

Mein Arbeitsweg betrug 36 Kilometer mit oft heftigem Gegenwind. Abends war ich stets zu müde fürs Mountainbiken. Das wollte ich ändern. Also suchte ich nach einer Lösung und baute mir mein eigenes E-Bike. An einem stabilen Stahlrahmen befestigte ich einen Nachrüstsatz mit Elektromotor und Akku. Damit konnte ich endlich entspannt pendeln. Bald verkaufte ich mein Auto.. Die letzten drei Jahre auf Neuseeland war ich komplett autofrei, dank Muskelkraft, Strom und zwei Rädern.

Zurück im Velo-Land Schweiz

Nach acht Jahren kehrten meine Partnerin Camille und ich zurück in die Schweiz nach Winterthur. Derzeit besitze ich fünf verschiedene Velos: ein Mountainbike, ein Faltvelo fürs Reisen im Zug, ein Gravelbike für lange Velotouren und ein Alltagsvelo, ein wunderschönes, rotes Modell namens «Roter Pfeil». Das rote Velo war ein Geschenk von dem Vater einer guten Freundin aus Basel. Das Velo bedeutet mir sehr viel, denn es half mir, nach einer schweren Krankheit wieder in den Sattel zu kommen.

Als er letztes Jahr starb, nahm ich dieses Velo mit an seine Beerdigung. Jetzt konnte ich meinen Freunden beistehen, die mich damals, in der für mich schwierigen Zeit, unterstützt hatten. Solche Verbindungen und Geschichten erinnern mich bei jeder Fahrt daran, was Velofahren bedeutet: Verbundenheit, Bewegung und Leben.

e-Bike City – ein Blick in die Zukunft

Bis vor Kurzem leitete ich das Projekt «e-Bike City» an der ETH Zürich. Am Beispiel der Stadt Zürich zeigten wir, wie man Städte schnell und günstig für nachhaltige Mobilität umbauen könnte. Ein interdisziplinäres Team arbeitete mit 30 Personen aus den Bereichen Architektur, Verkehrsplanung, Design und Ingenieurwesen zusammen. Dabei stellte sich heraus, dass eine Stadt, die mehr Raum für Menschen schafft, nicht nur umsetzbar ist, sondern auch lebenswerter. Wir bebilderten, wie der Strassenraum in Zürich aussehen könnte, wenn man ihn anders verteilt: mehr Raum für kleinere Verkehrsmittel, Grünflächen, Begegnungszonen und punktuell weniger Raum für parkierte Autos.

Dabei wurde mir klar, es geht nicht ums Velo als Selbstzweck. Es geht um mehr Gesundheit und Lebensqualität. Wenn weniger Autos unterwegs sind, profitieren alle, auch jene, die auf ein Auto angewiesen sind. Nur einen Teil der Parkplätze unter die Erde zu verlegen, würde schon viel bringen. Seit dem Projektende im Juni 2025 suche ich Wege, diese Ideen weiterzuentwickeln – beruflich, wie in der Praxis.

Wohin die Reise geht

Die schönsten Momente erlebe ich mit Camille. Wenn wir gemeinsam Landschaften entdecken, Vögel neben uns herfliegen, der Duft von Wiesen, Regen oder Schnee in die Nase steigt oder manchmal die Finger und Zehen fast gefrieren. Ich liebe diese Momente – auch die schmerzhaften. Dann bin ich ganz im Flow: eins mit mir, dem Velo und der Umgebung. Dann ist Velofahren fast wie Fliegen.

Derzeit planen wir eine Tour rund um den Gardasee, und wir träumen von einer langen Europareise. Drei Monate ganz frei, einfach drauflosfahren. In einer Welt voller GPS und Algorithmen tut es gut, einen Umweg zu nehmen oder gar einen scheinbar falschen Weg einzuschlagen, der sich später als richtig herausstellt. Auch philosophisch gesehen.

Für mich bedeutet Velofahren neben Freiheit auch Selbstermächtigung und Begegnung. Jeder Tritt in die Pedale ist eine kleine Revolution in Richtung einer erfüllteren Welt, wo die Strassen für uns alle da sind. Jahrzehnte haben wir Städte für Autos umgebaut, weil sie uns Freiheit versprachen. Doch es sind die Velos, die diese Freiheit wirklich bieten.

Das Velo ist nicht nur ein Verkehrsmittel, es ist auch ein Zeichen der Hoffnung. Es zeigt, dass Veränderung möglich ist, leise, effizient und zutiefst menschlich. Es ist an der Zeit, den Stadtraum neu zu denken, für all das, was das Leben in der Stadt interessant macht. Daran denke ich jedes Jahr, spätestens an meinem Geburtstag, dem Earth Day.»

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