«Als mein fünfjähriger Sohn vor einigen Monaten Anfang 2024 velofahren lernte, löste das in mir sehr intensive Gefühle aus. Zu beobachten, wie Bjarke diesen ersten grossen Schritt in die Unabhängigkeit tat, wie er fast wie ein Vogel fliegen lernte, erinnerte mich stark an meine Kindheit. Ich wuchs in Warschau auf, in einem ruhigen Quartier. Meine Schwester lehrte mich das Velofahren, als ich vielleicht sechs- oder siebenjährig war. An meinem Kindervelo war hinten eine Art Stützstange befestigt, mit der mich meine Schwester im Gleichgewicht hielt und stossen konnte. Irgendwann, ich hatte gerade viel Schwung, rief sie plötzlich von weiter weg, sie habe die Stange losgelassen… – Und ich fuhr einfach weiter, schneller und schneller. Was für ein toller Moment der Unabhängigkeit!
Von da an war ich ständig mit dem Velo unterwegs. Zum Einkaufen, zum Freunde Treffen. Viel konnte man damals im kommunistischen Warschau nicht unternehmen. Also drehten meine Freunde und ich einfach ziellos unsere Runden und fühlten uns selbstbestimmt und frei. Das Velo gab uns die Möglichkeit, Dinge zu tun, die sonst nicht möglich waren. Allerdings konnte ich nicht in die Schule radeln, denn in der Stadt selbst war der Verkehr viel zu gefährlich. Und natürlich weit und breit keine Velowege.
Übler Scherz
In den Sommerferien fuhren wir mit der Klasse in die polnischen Berge. Das gibt’s! Mein Geschichtslehrer war mein Vorbild, und er war auch die einzige erwachsene Person, die ich damals je auf einem Velo gesehen hatte. Er sorgte dafür, dass unsere Velos mit dem Bus im Sommercamp heil ankamen. Aber er war nicht immer dabei. Und einmal erlaubte sich ein Junge einen ziemlich gefährlichen Streich mit mir: Er fand es eine gute Idee, meine Velobremsen mit Schmierfett zu manipulieren. Als wir auf einem Serpentinenweg talwärts unterwegs waren, realisierte ich, dass ich immer schneller werde. Ich konnte nur noch in ein Gebüsch fahren und so eine Notbremsung hinlegen. Und mich gleich dazu! Aber glücklicherweise ist weiter nichts passiert.
Wenn ich zurückdenke an die Zeit in Warschau, erinnere ich mich einerseits an die graue, kommunistische Tristesse. Andererseits denke ich auch an die vielen wilden Tiere in den Bergen: Wildschweine mit Frischlingen, Rehe – mit dem Velo ist man einfach der Natur näher.
Gemütlich unterwegs
Heute sehe ich manchmal einen Fuchs im Zürcher Kreis 6, wo ich mit meiner Familie lebe. Das weckt in mir sofort nostalgische Erinnerungen an meine Jugend. Seit zehn Jahren lebe ich nun mit meiner Frau in Zürich. Was für eine gemütliche Stadt! Vor allem im Vergleich mit Warschau. Wenn ich in Zürich mit Leuten spreche, höre ich immer wieder, wie schrecklich Zürich zum Velofahren sei. Aber ich finde es super. In Warschau gibt’s mehr Stau, mehr Ärger und mehr Aggression im Verkehr. Hier in Zürich halten die Autofahrerinnen und Autofahrer an und lassen mich durchfahren. Klar, man muss schon vorausschauend fahren und braucht gute Bremsen. Und Handschuhe mit Smileys drauf! Kein Witz: Ich habe es mir angewöhnt, solche Handschuhe zu tragen. Wenn es doch einmal Ärger geben sollte, dann können meine Smiley-Handschuhe zur Deeskalation beitragen. Alles in allem finde ich es wirklich gemütlich hier. Aber natürlich hängt es auch mit den Erlebnissen zusammen.

Keine Frage, auch ich würde es begrüssen, wenn es mehr durchgehende Velowege gäbe. Als mobiler Tierarzt bin ich täglich mehrere Stunden mit meinem e-Bike unterwegs und besuche meine tierischen Patienten. Immer wieder kam es vor, dass ich entspannt auf einem Veloweg radelte und plötzlich endete er, und ich befand mich mitten im Autoverkehr. Inzwischen kenne ich die Stadt aber in- und auswendig. Ich kenne die Abkürzungen und die weniger stark befahrenen Routen.
Der grösste Hund
Als Tierarzt wollte ich zu Beginn meine Krankenbesuche mit dem Auto erledigen. Ich habe ja immer meine Arzttasche dabei und brauche das Auto regelmässig für Tiertransporte, zum Beispiel ins Krematorium. Schnell realisierte ich, dass es keine gute Idee ist, mit dem Auto zu meinen Kundinnen und Kunden zu fahren. Immer zuerst einen Parkplatz suchen, dann mehrere Minuten zu Fuss zum Patienten gehen, und manchmal geht gar nichts mit dem Auto, wie beispielsweise in der Altstadt. Also wechselte ich auf mein e-Bike. Heute erledige ich rund dreiviertel meiner Arbeit auf meinem Zweirad. Adresse ins Navi eintippen und einige Minuten später bin ich direkt vor der Haustür meines tierischen Patienten.
Alles per e-Bike geht dennoch nicht: Leider kommt es regelmässig vor, dass ein Tier sein Lebensende erreicht hat und eingeschläfert werden muss. Danach ist es meine Aufgabe, das Tier ins Krematorium zu fahren. Das ginge nicht mit dem Velo. Nicht zuletzt deshalb, weil gewisse Tiere eine beachtliche Grösse haben können. Kürzlich musste ich einen 82 Kilo schweren Mastiff-Hund auf seine letzte Reise mitnehmen. 82 Kilo! Der grösste Hund meines Lebens. Männliche Mastiffs werden sogar bis zu 100 Kilo schwer…
McLaren versus langsame Post
Neben meinen beruflichen Velotouren durch Zürich geniesse ich es sehr, mit meiner Frau und neu auch mit meinem Sohn mit dem Fahrrad unterwegs zu sein. Wenn wir zu dritt einen Ausflug an den See oder zum Käferberg machen, packe ich Bjarkes kleines Velo in einen Rucksack, setze ihn in seinen Kindersitz, und los geht’s. Sobald wir dann am Ziel ankommen, darf er neben uns herfahren. Er schafft bereits fünf Kilometer! Ich freue mich schon jetzt riesig darauf, wenn Bjarke alt genug ist und wir gemeinsam grössere Velotouren unternehmen können. Das ist ja nur noch eine Frage der Zeit.
Meine Frau und ich freuen uns auch über die Momente zu zweit, wenn unser Sohn im Kindsgi ist. Dann machen wir einen gemütlichen Ausflug in die Stadt und kehren irgendwo ein. Wir necken uns dabei gerne, wer schneller fährt. Wir haben beide das gleiche e-Bike. Ihres ist orange, meines gelb. Und weil wir ein Flair für die Formel 1 haben, nennt sie ihr Velo «McLaren», wohingegen sie meines als Postvelo bezeichnet. Aber ich bin dennoch schneller… Und eigentlich heisst mein e-Bike Raptsztok! Das ist eine Figur aus einem polnischen Kinderbuch. Darin geht es um Kaninchen, die ihren Bau verlassen und viele Abenteuer erleben. Und Raptsztok ist eine Legende unter den Kaninchen, der allerdings ständig Blödsinn macht. Aber das passt irgendwie zu mir!
Am liebsten sind mir die Momente auf dem Velo, wenn ich schnell fahre und mit der Wind ins Gesicht bläst. Meine Lieblingsstelle in Zürich ist die Kornhausbrücke vom Kreis 6 in den Kreis 5 hinunter. Wenn ich dort hinunterfahre, sei es zum Einkaufen oder für einen Patientenbesuch, dann liebe ich es, es laufen zu lassen – den Fahrtwind zu spüren und in die Ferne zu schauen. Dann fühle ich mich frei und unabhängig.»